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Dienstag, 9. April 2013, 15:47 Uhr

Norderstedt: Piraten treten nicht zur Kommunalwahl an

Streit um Listenkandidaten

Piraten-Logo

Hans-Georg (Felix) Becker | Weil zwei „fragwürdige Kandidaten“ nicht freiwillig bereit waren von der Norderstedter Wahlliste zurückzutreten, beschloss der Landesvorstand der Piraten, für Norderstedt keinen Wahlvorschlag bei der Wahlleitung einzureichen. Konsequenz: Die Piraten werden in Norderstedt nicht zur Kommunalwahl antreten.

Der Vorgang hat keinen Einfluss auf die Beteiligung der Partei im Kreis Segeberg. Was war geschehen? Die Transparenz der Piratenpartei macht es zum Teil möglich darauf Antworten zu finden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch noch so viele Blog-, Twitter- und Foreneinträge nicht unbedingt ein vollständiges Bild eines Sachverhalts wiedergeben.

Die Probleme fingen Ende Januar an. In einer öffentlichen Onlinediskussion der Segeberger Piraten bezeichnete Torsten Lang aus Norderstedt, seinerzeit noch Listen- und Direktkandidat der Piraten für den Kreistag, Flüchtlinge aus den Balkanstaaten als „sozialschmarotzende Balkanesen.“ Es soll nicht das erste Mal gewesen sein, dass Lang durch ausländerfeindliche Äußerungen aufgefallen war. Nachdem es deswegen heftige Diskussionen auf örtlicher Ebene gegeben hatte, erklärte sich Lang bereit auf die Kandidatur im Kreis zu verzichten, wenn sich genügend Parteimitglieder gegen seine Kandidatur aussprechen würden. Das war der Fall.

Auf der Kreismitgliederversammlung am 10. März wurden verschiedene Nachbesetzungen vorgenommen. Danach stand mit Frank Kowalski weiterhin ein Norderstedter auf der Liste. Doch das nächste Problem stand schon vor der Tür. Auf der Aufstellungsversammlung für die Norderstedter Stadtvertretung kam es am 21. März im Sportlerheim TuRa Harksheide zu einer folgenschweren Verfahrensweise der Kandidatenbefragung. Üblicherweise kommt es dabei zum „Kandidatengrillen“, einer oft sehr langwierigen, detaillierten Befragung zu unterschiedlichsten Themen. Doch Edgar Timm, ein in der jüngeren Vergangenheit für die Piraten medial und als Fragesteller in Ausschüssen aktiver Norderstedter, beantragte, die übliche Kandidatenbefragung einzuschränken. Es sollten nur Parteimitglieder aus Norderstedt Fragen stellen dürfen und die Art der Fragen sollte eingeschränkt werden. Dem Antrag wurde stattgegeben. Am Ende der Aufstellungsversammlung standen sowohl Edgar Timm als auch Torsten Lang auf dem Wahlvorschlag für die Liste zur Norderstedter Stadtvertretung.

Hatten die Vorkommnisse bisher eher lokalen, höchstens regionalen Charakter, fanden sie jetzt bundesweite Beachtung. Am 23. März veröffentlichten die Jungen Piraten Schleswig-Holstein einen offenen Brief. Darin hielten sie es „…für nötig, uns von Torsten Lang zu distanzieren und fordern alle auf, sich uns anzuschließen. Wir verlangen, dass Torsten seine Kandidatur zurückgibt. Wir können und wollen einen solchen Menschen nicht als Kandidat der Piratenpartei sehen.“ Desweiteren verurteilen die Jungen Piraten , "das Vorgehen auf der Versammlung, bei der Gästen das Recht entzogen wurde, Fragen an die BewerberInnen zu stellen und kurz darauf pro FragestellerIn höchstens drei Fragen zuzulassen.“ Nur einen Tag später berichteten die Popcornpiraten (eine kritische News-Sammlung zur Piratenpartei) über die Vorkommnisse und verschafften den Norderstedter Piraten damit bundesweite Aufmerksamkeit.

Daraufhin kam es dann zu einem Aufarbeitungstreffen vor Ort. Auf der Sitzung die kurz vor Ostern stattfand waren weder Edgar Timm (im Urlaub) noch Torsten Lang anwesend. Nach über drei Stunden kam man zu dem Ergebnis, dem Landesvorstand einen Antrag vorzulegen, „den Wahlvorschlag, resultierend aus der Aufstellungsversammlung vom 21.03.2013 der Piraten der Norderstedter Wahlkreise, im Namen der Piratenpartei NICHT an die Wahlleitung weiter zu geben.“ Begründet wird der Antrag u.a. damit, dass es auch eine Aufgabe des Vorstands sei, „potentiell parteischädigendes Verhalten zu erkennen – auch vorsorglich – entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, damit ein möglicher Schaden von der Partei abgewendet werden kann.“ Bei der Einschränkung des Rederechts zum „Kandidatengrillen“ handele es sich um Verhaltensweisen „welche - gerade unter Berücksichtigung der bisher gemachten Erfahrungen – durch die Piratenpartei nicht akzeptiert oder toleriert werden dürfen.“ In dem Antrag wird auch festgehalten, dass Torsten Lang alle Gesprächsangebote und Lösungsvorschläge ausgeschlagen oder ignoriert haben soll.

Abgestimmter Antrag an den Vorstand

Abgestimmter Antrag an den Vorstand

Dem Antrag wurde per Umlaufbeschluss stattgegeben. Somit wird der Wahlvorschlag der Norderstedter Piraten nicht an den Wahlleiter weitergereicht. Die Piraten in Norderstedt können also nicht an der Wahl zur Stadtvertretung teilnehmen. Diesem Umstand kann aus terminlichen Gründen, z.B. durch Neuwahlen, nicht mehr abgeholfen werden. Das ist wie es ist.

Aber um die Vorkommnisse in einem größeren Rahmen zu beleuchten, muss man natürlich auch die Wahrnehmung derer berücksichtigen, ÜBER die bisher nur geredet und geschrieben wurde. Wir hatten die Möglichkeit Edgar Timm diesbezüglich telefonisch zu befragen. Timm bestätigte, dass die Person Torsten Lang nicht unumstritten sei. Lang, habe sich sicherlich zu vorschnellen Äußerungen hinreißen lassen, die es aber nicht rechtfertigen würden, gegen ihn „die Keule der Ausländerfeindlichkeit“ herauszuholen. Timm relativierte die Äußerungen in Hinblick auf die nach seiner Meinung nach zunehmenden Probleme bei der Osterweiterung der EU. Er führt dazu die zunehmenden Asylbewerberzahlen an, die hauptsächlich in dem Wunsch begründet seien die individuelle wirtschaftliche Situation zu verbessern. Die oben beschriebenen Vorwürfe und die Konsequenzen daraus sind Timm´s Meinung nach einem „vorauseilenden Gehorsam“ geschuldet, um in der öffentlichen Wahrnehmung nicht in die rechte Ecke gestellt zu werden.

Zu den Vorgängen auf der Aufstellungsversammlung hat Timm ebenfalls eine andere Auffassung. Weder er noch Lang haben sich um die Plätze gerissen. Timm hat nach eigener Darstellung sogar eine Anfrage, auf Platz 1 zu kandidieren, abgelehnt. Somit sei für die vorderen Plätze eigentlich vorgeschlagen worden, wer den geringsten Widerstand leistete. Auf der Aufstellungsversammlung wollte dann nach Aufforderung durch den Versammlungsleiter niemand eine Frage an die Kandidaten stellen. Nur Oliver Grube (Kandidat zur Bundestagswahl) und Ingo Kümmel holten eine „Checkliste“ hervor und verlas diese. Grube und Kümmel waren bei der späteren Aufstellung der Liste nicht wahlberechtigt. Bei der Frage „Wie stehst du eigentlich zur Homöopathie?“, riss bei Edgar Timm der Geduldsfaden. Diese Art von Fragen erschien ihm als eine Art „Gesinnungsschnüffelei“ und waren ihm zu weit weg von politischen Inhalten. Deswegen stellte er einen Geschäftsordnungsantrag, Fragen nur noch von Wahlberechtigten stellen zu lassen. Diesem Antrag wurde, so Timm, mit großer Mehrheit zugestimmt. Als daraufhin Grube und Kümmel ihre Checkliste an eine wahlberechtigte Person weitergab und diese Person anfing die Fragen zu verlesen, stelle Torsten Lang einen Antrag, nur drei Fragen pro Fragesteller zuzulassen. Dieser Antrag wurde ebenfalls mehrheitlich angenommen. Diese Vorgehensweise wurde – wie bei den Piraten durchaus üblich – unverzüglich getwittert und „der Shitstorm“, so Timm, begann. Das Ergebnis ist bekannt.

Edgar Timm ist nach wie vor der Auffassung, dass die Aufstellung der Direkt- und ListenkandidatInnen demokratisch einwandfrei erfolgte. Aus seiner Sicht sind die vorgebrachten Anschuldigungen verleumderisch und die Drohungen, falls kein freiwilliger Verzicht auf die Listenplätze erfolge, die Wahlvorschläge nicht einzureichen, Nötigung. Er wird in den nächsten Tagen mit einigen anderen Mitstreitern das weitere Vorgehen beraten.

Der/die geneigte LeserIn möge versuchen, sich ein eigenes Bild von der Angelegenheit zu machen. Fest steht jedenfalls, das die Piratenflagge in Norderstedt auf Halbmast gesetzt werden kann.

Ein Kommentar zu diesem Artikel

09.04.2013, 21:49 Uhr Stefan H.Hut ab vor den Landes-PIRATEN!

So, so. Der Herr Lang wollte nur auf die "zunehmenden Probleme bei der EU-Osterweiterung hinweisen". Wer von "sozialschmarotzenden Balkanesen" faselt, wird nicht Opfer eines "Shitstorms" oder von der bösen "Keule der Ausländerfeindlichkeit" getroffen, sondern völlig zu Recht politisch entsorgt.

Man kann sich freilich darüber ärgern, dass der ein oder andere Mensch aus den wirtschaftlich schwächeren südosteuropäischen Staaten nur wegen möglicher Transferleistungen nach Deutschland kommt. Selbst dann aber muss man sich auch mit der sehr ungleichen Verteilung von Armut und Reichtum beschäftigen - sowohl innerhalb Deutschlands, als auch innerhalb Europas. Und mit der Frage, wie man sich wohl selber verhalten würde, wenn es darum geht, die eigene Familie zu ernähren.

Vor allem aber gibt es nicht den geringsten Grund dafür, die Betroffenen mit beleidigenden und herabwürdigenden Äußerungen zu belegen. Hut ab daher vor dem Landesvorstand der PIRATEN, der binnen weniger Tage eine so folgenschwere Entscheidung getroffen hat - und das völlig zu Recht!