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Mittwoch, 12. Februar 2003, 1:00 Uhr
Neonazi-Terror gegen kurdische Familie in Itzstedt
Skandalös normal
Leicht verändert übernommen von: Reinhard Pohl | Die kurdische Familie Erman erinnert sich noch gut an den Tag im Jahre 1996, als die Özel-Teams, die Spezialeinheiten der türkischen Armee in ihr Dorf in der Nähe von Mardin kamen. Sie erzählen nicht viel darüber, zeigen aber eine ärztliche Bescheinigung: Die 12-jährige Tochter Necla, damals 6 Jahre alt, hat noch immer mehrere Metallsplitter im Arm. "Sie haben geschossen", erklärt Merdiye, heute 16 Jahre. Und der Vater, Kutbethin, ist heute in psychotherapeutischer Behandlung.
Damals, Mitte der 90er Jahre, war der Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten auf seinem Höhepunkt. Insgesamt 4000 Dörfer wurden zerstört, 30.000 Menschen getötet, 2 Millionen Menschen vertrieben. Auch die Familie Erman, damals die beiden Eltern mit vier Kindern, mussten die Heimat verlassen. Da insbesondere der Vater bereits mehrfach festgenommen und gefoltert worden war, floh er direkt nach Deutschland und beantragte Asyl. Die vier Kinder, die große Tochter Merdiye, die kleine Necla, altersmäßig dazwischen die Söhne Hicran und Ugur (heute 15 und 14 Jahre alt) folgten drei Monate später. Weitere drei Monate danach kam die Mutter hier an.
Sie wohnten zunächst in verschiedenen Unterkünften, in Lübeck, Itzehoe und Boostedt. Dann bekamen sie eine kleine Wohnung in Oering, mussten bis 1999 warten, um die größere Wohnung in Itzstedt zu bekommen, wo sie heute leben. Drei Kinder wurden hier in Deutschland geboren.
Jetzt leben sie also in Itzstedt, einem kleinen Ort in der Nähe von Norderstedt. Doch sie fühlen sich nicht in Sicherheit. Alle beantragten Asyl. Es wurde abgelehnt. Sie könnten, so meinen Behörden und Gerichte, in einer Großstadt der Türkei unterkommen, dort gäbe es keine lebensbedrohende Verfolgung. Sie müssten ja nicht gleich nach Deutschland kommen.
Doch was ihnen im Moment noch mehr zu schaffen macht: Seit einem Jahr werden sie in Itzstedt selbst bedroht und angegriffen. Es sind jeweils sechs bis zwölf Jugendliche, ausgerüstet mit Motorrädern. "Scheiß-Ausländer" wären sie, und Itzstedt wolle deutsch bleiben. Die Familie Erman wird als "Türken" beschimpft. Als der 14-jährige Ugur einigen dieser Jugendlichen neulich allein begegnete, wurde er geschlagen.
Als die Jugendlichen Anfang Dezember zum Haus kommen, nachdem sie sich gegenüber bei der Tankstelle gesammelt haben, geht der Vater auf sie zu. "Wir sind nicht freiwillig hier", versucht er zu erklären. "Wir mussten fliehen." Doch das interessiert die Jugendlichen nicht - Türken, Kurden, Ausländer, alle sollten verschwinden. Ein paar Tage später wird die Mutter, Masallah Erman, bedroht, als sie mit ihrem kleinen Neffen einkaufen geht. Jugendliche fahren mit Motorräder direkt auf sie zu und drohen, das kleine Kind zu verprügeln.
Anfang Januar 2003 klirren nachts, kurz nach Mitternacht, die Scheiben: Zwei große Steine werden durch das Fenster in Badezimmer geworfen, so groß, dass Merdiye sie kaum längere Zeit halten kann, groß genug, um Menschen schwer zu verletzten. Die Familie ruft sofort die Polizei. Diese bedauert - es sei kein Streifenwagen frei. So dauert es über eine halbe Stunde, bis ein Polizeiauto aus Ulzburg da ist. Die Streifenpolizisten kündigen an, dass sie das ganze der Kripo in Kiel übergeben werden. Die Familie wartet, um drei Wochen später, als ich sie besuche, resigniert festzustellen: Offensichtlich interessiert sich die Kriminalpolizei nicht dafür. Sie haben zumindest nichts mehr gehört.
Seitdem kann die Familie schlecht schlafen, irgend jemand bleibt immer wach. Als sich Tage später die Jugendlichen wieder bei der Tankstelle sammeln, gehen die beiden großen Söhne gleich zu ihnen rüber, fragen, warum sie das immer wieder machen. Sie werden mit "Heil Hitler" begrüßt und beschimpft. Außerdem wird ihnen gedroht, dass demnächst ihr Haus brennen wird.
Recherche
Ich habe die Familie am 2. Februar besucht, danach diesen Artikel geschrieben. Bis hierhin gebe ich weiter, was ich bei diesem Besuch erfuhr. Doch was nützt es, darüber zu schreiben, wie es einer kurdischen Flüchtlingsfamilie in Itzstedt ergeht?
Der Vater, Kutbettin Erman, befindet sich seit einigen Monaten in psychotherapeutischer Behandlung. Die Psychotherapeutin war es auch, die den Kontakt zum Gegenwind herstellte. Zuvor hatte sie versucht, mit dem Bürgermeister von Itzstedt Kontakt aufzunehmen. Sie bekam zwar freundliche Antwort, man werde sich darum kümmern, sie wusste aber nicht, ob tatsächlich etwas geschieht. Denn der anschließende Anruf bei der Polizei führte zu einer sehr kurz angebundenen Antwort, man habe schließlich auch noch anderes zu tun.
Ich fragte am 3. Februar beim Innenministerium nach: Könnte es sein, dass die Erzählungen der Familie zutreffen? Und ist die Landespolizei in der Lage, die Sicherheit der Flüchtlingsfamilie zu gewährleisten?
Das Innenministerium reagierte schnell. Zwar dürfe man zu einem Verfahren, in dem gerade ermittelt werde, keine Auskunft geben. Man leitete aber die Anfrage sofort an die Polizeiinspektion in Bad Segeberg weiter, die sich schnell einen Überblick verschaffte.
Einerseits, so versicherte die Polizeiinspektion unserer Redaktion, freue man sich, dass der Gegenwind sich um die Probleme der Familie kümmere. Und man bemühe sich durchaus verstärkt darum, die Sicherheit der Familie zu gewährleisten. Und hinsichtlich der Vorgänge, die oben beschrieben sind, sei das Kommissariat der Kripo in Kiel eingeschaltet worden, das bei ausländerfeindliche Straftaten zuständig sei.
Schon am nächsten Tag ging es weiter: Vertreter der Verwaltung tauchten bei Familie Erman auf. Allerdings wollte man sich nur das Haus ansehen, für ein Gespräch mit der Familie reichte die Zeit wohl nicht. Kurz darauf kam aber ein Beamter der Kripo aus Kiel, der ein Protokoll über die Vorfälle vom 5. Januar anfertigte – am 5. Februar.
Offen bleiben muss hier, ob diese Aktivitäten sowieso geplant waren. Zu vermuten ist, dass die Anfrage aus der Gegenwind-Redaktion sie nicht ausgelöst, möglicherweise aber beschleunigt hat.
Das Amt Itzstedt
Später ruft mich der leitende Verwaltungsbeamte des Amtes Itzstedt, Herr Dankert, an. Das Amt Itzstedt entstand 1970 zur gemeinsamen Verwaltung der Gemeinden Itzstedt, Kayhude, Nahe, Oering und Seth sowie Sülfeld. Das Amt Itzstedt ist zum Beispiel für die Unterbringung von Flüchtlingen zuständig, die über den Kreis Segeberg verteilt werden. Das Haus, in dem die drei Familien wohnen, ist auch vom Amt Itzstedt angemietet worden.
Das Amt Itzstedt hat, so erläutert mir Herr Dankert, von den Problemen erst Mitte Januar erfahren. Und man habe sofort reagiert. Der Besuch des Hauses habe dazu gedient, die baulichen Gegebenheiten neu zu bewerten. Man habe Sicherheitsfolie an einigen Fenstern angebracht, es sollten als nächstes zusätzlich Feuerlöscher angeschafft werden. Die kriminalpolizeiliche Beratungsstelle und die örtliche Feuerwehr hätten das Amt beraten.
Nicht beantworten kann er meine Frage, warum die Familie nicht einbezogen wurde. Doch das, so versichert er, könne man nachholen. Darüber hinaus können sich ja auch die Familie selbst an die Verwaltung wenden und eigene Wünsche äußern oder Vorschläge machen.
Besprochen wurde die Frage bisher lediglich im Bauausschuss, deshalb folgten auch die beschriebenen Maßnahmen so schnell. Meine Frage, ob nicht auch die Jugendpolitik im Ort gefragt ist, bleibt erst einmal im Raum stehen. Wer die Drohung, einer ausländischen Familie das Dach über dem Kopf anzuzünden, ernst nimmt, so argumentiere ich, könne und sollte natürlich vorher Feuerlöscher bereit stellen. Aber man könne doch mehr tun als warten!
Skandal oder Normalität?
Zu fragen bleibt, welche Rolle die Einwohnerinnen und Einwohner von Itzstedt spielen. Wie wir hörten, haben die Jugendlichen in einigen Discos der Umgebung Hausverbot, und es ist eigentlich unmöglich, dass ihr Treiben mitten im Dorf den Einwohnerinnen und Einwohnern verborgen bleiben kann: Das Haus der Familie Erman, in dem noch zwei weitere kurdische Familien untergebracht sind, liegt im Zentrum von Itzstedt. Dort klirrt keine Scheibe, ohne dass es rundherum gehört wird.
Natürlich kann man eine "Rangelei" an der Bushaltestelle oder ein "Heil Hitler" auf der Tankstelle für einen Ausrutscher halten. Aber wie fest müssen die Augen geschlossen werden, um so etwas über einen längeren Zeitraum zu ignorieren?
Reinhard Pohl