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Mittwoch, 11. Juni 2008, 2:00 Uhr

Menschen bleiben auf der Strecke

Der tödliche Arbeitsunfall eines 28jährigen und seine Geschichte ...

Von almay | Seinen Angehörigen und besonders auch seinem Großvater Herbert Kröhnke, seit 1952 Mitglied in der Industriegewerkschaft Bauen Agrar Umwelt (IG BAU), ist es wichtig, dass Svens Schicksal wenigstens anderen zur Warnung dient. Für Svens Mutter Marion, die den Unfalltag wieder und wieder in ihrem Kopf durchspielt, gibt es nur ein Rezept: "Wenn keine Sicherheit da ist auf der Baustelle, unbedingt gleich sagen: "Nein, da arbeite ich nicht! Das mache ich nicht!" Denn: "Jeder Schritt auf einer ungesicherten Baustelle kann der letzte sein."
Mangelhafte Arbeitssicherheit gibt es auch auf Baustellen, wo die Bautafeln auf feine Adressen deuten. Sven Kröhnkes Leben verlöschte auf einer solchen Vorzeigebaustelle. Bauherr und Generalunternehmer sind "feine Leute", ihre Geschäftsführer sind angesehene Bürger der Hansestadt Hamburg. Sven starb im Gewerbegebiet "Am Siebenstücken" in Henstedt-Ulzburg. Die Firma Bode Chemie ließ dort vom Gewerbeimmobilien-Spezialisten ECE ein sechs Millionen Euro teures Logistik-Zentrum realisieren. Knappe sechs Monate Bauzeit waren für die 6400 Quadratmeter große und zehn Meter hohe Halle mit sieben Jumboladebrücken veranschlagt. Zur Eröffnung des Logistikzentrums kam sogar der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister. Besonders gelobt wurden an diesem Tag natürlich die "termingerechte" Fertigstellung und das "effektive Projektmanagement". In die Sprache der Baustellenrealität übersetzt heißt das: enormer Termindruck und gnadenloses Sub-Sub-System. Den 28-jährigen Sven Kröhnke hat dies das Leben gekostet. Er war erst den zweiten Tag auf der Baustelle, er war branchenfremd. Als Mechatroniker war er arbeitslos, hatte sich überall beworben. Da sprach ihn ein alter Bekannter an, nahm ihn mit zu einem schnellen Job für Dachabdichtungsarbeiten auf der großen Halle.

Mörderisches Sub-Sub-System

Was Sven Kröhnke nicht wusste: Erst eine Woche zuvor hatte die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft bei einer Begehung die ordnungsgemäße Absicherung der ein mal ein Meter großen Oberlichter verlangt, hatte weitere schwere Mängel (unter anderem die nicht abgesicherte Dachkante) festgestellt und gemahnt, dass bei den Dacharbeiten unbedingt Auffanggurte zu tragen seien.
Gurte und Abdeckungen aber gab es nicht, die wurden erst nach Svens Tod angeschafft. Es gab auch keine Auffangnetze, die bei den Dacharbeiten gegen Stürze absichern. Diese Netze waren für den Einbau der Sprinkleranlage durch die Firma TECO System, die als Subunternehmen für die Dacharbeiten zuständig war, wieder entfernt worden. Svens Chef, der Sub-Sub-Unternehmer Svend Baekkel mit seiner Firma Trabajo Experten Limited, hatte sich zwar über die fehlenden Netze beschwert, es aber dabei belassen, als sein Auftraggeber TECO nicht bereit war, die Auffangvorrichtungen wieder aufzuhängen. (Vor Gericht - dies eine Warnung an alle Subs - geriet ihm das zum Nachteil. Baekkel blieb der einzige, der wegen Svens Tod eine Strafe erhielt. Vor Gericht stellte sich auch heraus, dass in Baekkels "Experten Ltd." kaum ein Arbeiter Branchenerfahrung hatte oder gar in die Sicherheitsanforderungen für die Dacharbeit eingewiesen worden war.)
Als Sven branchenfremd und ohne jede Erfahrung am 8. Juni 2006 auf das Hallendach ging, standen die Oberlichter ungesichert offen. Es war ein langer, harter Arbeitstag beim Folienverlegen und Schweißen. Sven kam erst nach Mitternacht nach Hause, wurde schon um halb sechs wieder abgeholt. "Es wird ein hammerharter Tag", sagte er noch zu seiner Freundin. In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kiel heißt es dazu lapidar: "Nach Zeitverzögerungen am Bau war durch die Auftraggeber ein erheblicher Druck auf die Unternehmer und Subunternehmer ausgeübt worden, die Arbeiten beschleunigt abzuschließen. Am Vormittag des 9. Juni 2006 sollte eine Abnahme des bis dahin regeldicht zu verschließenden Daches erfolgen."
Der Stress also war enorm. Gegen acht Uhr des Abnahmetags, an seinem zweiten Arbeitstag als "Dachdecker", so ermittelte die Staatsanwaltschaft, "trat Sven Kröhnke während der Dacharbeiten versehentlich auf eine bereits mit Folie abgedeckte und daher nicht zu erkennende ungesicherte Oberlichtöffnung im Dach und stürzte aus einer Höhe von 11,5 m in das Halleninnere auf den Betonfußboden". Sven starb noch an der Unfallstelle.
Strafrechtlich belangt wurde nur das Sub-Sub-Unternehmen Trabajo Experten Ltd., dem man, so ein Fachmann, "nie die Gewerbeerlaubnis hätte geben dürfen". 5000 Euro Geldbuße und eine mehrmonatige Bewährungsstrafe wegen fahrlässiger Tötung, das war das Strafmaß für Svens Unfalltod. Die Dacharbeitenfirma TECO aus Norderstedt, Generalunternehmer Wulff und Bauherr ECE blieben unbehelligt. Svens Eltern Marion und Gunnar Kröhnke haben nie etwas von diesen Firmen gehört, geschweige denn wenigstens eine Beileidsbekundung erhalten. Der Generalunternehmer, die Otto Wulff Bauunternehmung GmbH & Co. KG, eine der größten Hamburger Baufirmen, wurde 2007 mit dem "KulturMerkur" der Hansestadt ausgezeichnet. Auf der Internetseite heißt es: "Wir legen größten Wert auf Qualität, Termintreue und Kostenminimierung - Professionelles Arbeiten und umfassende technische Kompetenz garantieren unseren Auftraggebern höchste Qualität und Zuverlässigkeit." Zu den Richtfesten der Vorzeigefirma kommen Minister, etwa Bundesministerin Ursula von der Leyen zum neuen Kindergarten Marienkäfer in Hamburg-Marienthal am 18. Januar 2008.
Bauherr ECE wurde 1965 vom Hamburger Versandhauspionier Werner Otto gegründet und befindet sich im Besitz der Familie Otto. ECE steht für "Einkaufs-Center Entwicklungsgesellschaft", ist der europäische Markführer auf dem Gebiet innerstädtischer Shopping-Center. ECE ist in 15 Ländern aktiv und plant, realisiert, betreibt und vermietet auch Verkehrsimmobilien, Logistikzentren, Firmenzentralen, Bürokomplexe, Industrie- und Gesundheitsimmobilien.

Ständig Baustellen-Skandale

70 Einkaufscenter, darunter am Potsdamer Platz in Berlin, im Hauptbahnhof Leipzig und am Schloss in Braunschweig, befinden sich im Management von ECE. 27 weitere Center sind zurzeit in Bau oder Planung. Immer wieder gibt es Baustellen-Skandale auf ECE-Adressen. Von der IG BAU dokumentiert sind Dumpingfälle und Mindestlohnverstöße mit türkischen Arbeitern in Passau und Schweinfurt, mit polnischen Kollegen in Braunschweig oder in Essen mit scheinselbstständigen Polen und Rumänen. Facility-Manager berichten unter der Hand, dass auch im ECE-Management ein gnadenloser Umgang herrsche.
5000 Euro Bußgeld für Svens Tod übrigens, das ist ein Tausendstel (0,0001) Prozent des "ständigen ECE-Bau- und Planungsvolumens von fünf Milliarden Euro". Und das hat ECE auch noch gespart - durch "effektives Projektmanagement.

Nachtrag Info Archiv: Die "Einkaufs-Center-Entwicklungsgesellschaft" betreibt unter anderem das Norderstedter Herold-Center. Zur Einweihung des Ulzburger Logistikzentrums schrieb die Norderstedter Zeitung etwa drei Monate nach Svens Tod: "Nach nur sechs Monaten Bauzeit konnte das neue Logistikgebäude jetzt in Betrieb genommen werden. (...) Etwa 100 Gäste und der Wirtschaftsminister konnten die Halle mit insgesamt sieben Jumboladebrücken und einem ebenerdigen Rolltor begutachten. Die neue Halle ist etwa 95 mal 65 Meter groß und hat eine lichte Höhe von knapp zehn Metern." Von einem Arbeitsunfall wurde nichts bekannt.

Veröffentlicht in Arbeit & Kapital mit den Schlagworten Henstedt-Ulzburg, IG BAU, Norderstedt, Schleswig-Holstein