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Donnerstag, 23. September 2004, 2:00 Uhr
Man muss auch einen Teil vergessen ...
... sonst kann man nicht leben: Prof. Friedhelm Boll und Karl-Heinz von Hassel lasen in Kaltenkirchen
Info Archiv | Beide Vortragenden ergänzten sich auf ideale Weise. Der Professor kommentierte, erläuterte und erklärte seine Studie, die er über das Sprechen und Nichtsprechen von Überlebenden des Holocausts angefertigt hat, und der Schauspieler las die teilweise erschütternden Erzählzeugnisse der überlebenden Opfer des Nationalsozialismus vor. Damit erzeugten sie bei den Zuhörern höchste Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit.
In der umfangreichen Studie waren von Friedhelm Boll über hundert Interviews mit Überlebenden näher untersucht worden. Ausgewählt hatte er solche Personen, die mehrfach befragt wurden und zu denen zusätzlich ältere Erinnerungstexte zum Vergleich herangezogen werden konnten. Dabei entdeckte er die Abhängigkeit der erzählten Lebensgeschichten vom sozialen Kontext ihrer Entstehung, d.h., die Art des Reden- und Nichtredenkönnens hing u.a. von dem Interesse oder Nichtinteresse der Zuhörer ab. In den ersten dreißig Jahren nach dem Ende des Krieges konnten die meisten Opfer nicht reden, weil niemand ihnen zuhören wollte, weil das, was sie zu sagen hatten, in einer Gesellschaft nicht passte, die mit anderen Dingen beschäftigt war und weil die erlebten Vorgänge in der Nachkriegsgesellschaft unerwünscht erschienen.
Prof. Friedhelm Boll konzentrierte sich an dem Abend in Kaltenkirchen auf drei Beispiele. Im ersten Beispiel wurde die Lebensgeschichte des Juden Feliks Fischer dargestellt, der bisher über seine Erlebnisse in Auschwitz geschwiegen hatte. Er konnte nicht reden und kann es auch heute nicht recht. Er hat eine panische Angst davor, missverstanden zu werden. Fischer: "Ein Teil wird da sein und sagen: < Schade, dass er noch lebt, dass wir sie nicht gleich vergast haben, hätten wir sie vergast, dann hätten sie nichts erzählt.> Wenn Feliks Fischer zählt, dann nur in abgerissenen Sätzen. Zuletzt sagte er : "... man muss auch einen Teil vergessen, sonst kann man nicht leben."
Das zweite Beispiel zeigt die Jüdin Hanna Mandel, die ihre Erlebnisse erzählt, weil sie das Erzählen als eine Befreiung erlebte. Das ständig anwachsende öffentliche Interesse regte sie an, ihre Verfolgungserfahrung erzählerisch durchzuarbeiten und zu gestalten. Sie tritt seit der Mitte der 1970er Jahre in Schulen und Gedenkstätten auf. Sie erzählt, wie sie als 15-jähriges Mädchen im Lager mit ansehen musste, wie ein neugeborenes Kind von einem SS-Mann an die Wand geklatscht und die Mutter davon wahnsinnig wurde. Sie, Hanna Mandel, hat später selber Kinder bekommen und jedes Mal traten entsetzliche Alpträume und Ängste auf. Sie weiß, dass sie die Alpträume nie los werden wird, aber durch das Reden über das Erlebte würden sie sich für sie mildern. Die schrecklichen Erlebnisse seien ihr eingebrannt, seien wie eine zweite Haut immer da und durch das Reden darüber sei sie erträglicher. Alle ihre Erzählungen haben einen Anfang und ein Ende, was zeigt, dass sie Souveränität im Umgang mit ihren Erinnerungen gewonnen hat. Seit 1975 war ihre Identitätsarbeit, ihre Selbstfindung an diese Zeitzeugengespräche gebunden. Aber nicht nur für sich selber, auch für die Zuhörer, insbesondere für Jugendliche, war und ist sie eine Bereicherung.
Das dritte Beispiel in der Lesung zeigt die Lebensgeschichte von Max Mannheimer, dessen Reden als Selbsttherapie verstanden werden kann. Er verfasste einen schriftlichen Lebensbericht, den keiner drucken wollte, der aber sein Leben veränderte. Sein Bericht zeichnete sich durch eine lakonische Kürze, durch einen sogenannten Stakkatostil aus, keine vollständigen Sätze, nur Wortfetzen und Substantive, aber sehr eindringlich und wie literarisch gestaltet. Die schrecklichen Erlebnisse, z.B. wie seine Eltern in die Gaskammer ausgesondert wurden, kann er nur in einer symbolisch, abständigen Form darstellen. Heute ist der Text, den damals niemand drucken wollte und in dem der Autor Mannheimer viele Fragezeichen benutzt, in sechs Sprachen übersetzt. Ein Schlüsselerlebnis in Amerika machte Mannheimer klar, wie präsent ihm seine Erlebnisse in Auschwitz trotz seiner Textarbeit noch waren. Er entdeckte ein in eine Mauersäule eingraviertes Hakenkreuz. Er brach zusammen und verbrachte 12 Tage in einem psychiatrischen Krankenhaus. Daraus lernte er, dass die seelischen Folgen der KZ-Haft immer wieder aufbrechen werden. Aber mit der Zeitzeugenarbeit, die durch das öffentliche Interesse in den letzten Jahren gefördert wurde, gewann er neues Selbstvertrauen. Heute ist er durch seine Zeitzeugenarbeit sogar in der Lage, mit Neonazis zu diskutieren. Die Erfolge seiner Aufklärungsarbeit wirken für ihn wie Therapie. Erzählen und Zuhören funktioniert nur in gegenseitigem Respekt, und indem ihm jetzt zugehört wird, fühlt er endlich den Respekt und die Achtung, die er in seinem Leben zuvor, auch noch in den vielen Jahren nach dem Krieg vermissen musste.
Es war ein nachdenklicher, spannender und ergreifender Abend. Im anschließenden Gespräch machten das die Zuhörer deutlich. Der Trägerverein dankte den beiden Vortragenden, die für den Abend in Kaltenkirchen auf jedes Honorar verzichtet hatten.
Der Vorstand des Trägervereins