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Samstag, 20. November 2004, 1:00 Uhr

Das Gesicht eines Lagerführers

Veröffentlichung von Gerhard Hoch

Von Olaf Harning | Noch vor der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Flensburg am 16. November hat der Alvesloher Historiker Gerhard Hoch (81) eine Abhandlung über den ehemaligen Lagerführer des KZ-Außenkommandos Kaltenkirchen - Otto Freyer - veröffentlicht. Wie immer ein lesenswerter Baustein regionaler Geschichte.

In der Zeitschrift ISHZ (Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte) publiziert Ehrendoktor Hoch regelmässig, in der aktuellen Ausgabe Nr. 43 nun berichtet er auf 23 Seiten über jenen Otto Freyer, der als Lagerführer für den Tod hunderter Kriegsgefangener im KZ-Springhirsch zwischen August 1944 und Januar 1945 verantwortlich zeichnete.

Allerdings fördert Hoch dabei durchaus Erstaunliches zutage. So soll Freyer seiner Abordnung zur SS nur widerwillig und nach mehreren Widerspruchs-Versuchen gefolgt sein. Otto Freyer war bereits 50 Jahre alt, als er die Lagerführung in Springhirsch übernahm, und hatte schon den Ersten Weltkrieg als Frontsoldat miterlebt. Er wurde im März 1894 in Stuttgart geboren, erlernte dort den Kaufmannsberuf und trat in das väterliche Geschäft - Spiegel, Bilder, Einrahmungen - ein. Der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen hat er nach eigenen Angaben nicht angehört.

Auf Befehl seiner militärischen Vorgesetzten wurde Freyer im Sommer 1944 zum SS-Wirtschaftsverwaltungs-Hauptamt in Oranienburg abkommandiert, von dort aus am 1. August 1944 in das Konzentrationslager Neuengamme beordert. Nachdem er gegenüber Max Pauly, dem Neuengammer Lagerkommandanten, geäussert hatte, er wäre "für das Leben in Neuengamme zu weich", soll Pauly ihm für die Dauer einer Woche die Führung des Exekutionskommandos übertragen haben. Er musste nun als Offizier den Hinrichtungen beiwohnen und protokollieren, dass die Gehängten tatsächlich tot waren. Auf Paulys Frage, ob er nun härter geworden sei, habe Freyer anschließend geantwortet, er (Pauly) habe "genau das Gegenteil erreicht".

Gerhard Hoch legt in seinem Text viel Wert auf solche Widersprüchlichkeiten in der Geschichte von Otto Freyer, bleibt aber in seiner Bewertung stets kritisch: So bewertet er diese Schilderungen zwar als "durchaus glaubhaft", stellt aber auch die Frage, warum Freyer nach solchen Vorkommnissen "die verantwortungsvolle Stellung als Führer eines KZ-Außenkommandos" zugewiesen bekommen hätte, das mit seinem Eintreffen im August 1944 eröffnet wurde. Auch in den darauf folgenden Monaten blieb das Handeln Freyers rätselhaft, zuweilen diffus. So hat er sich nach den Recherchen Gerhard Hochs regelmässig und häufig vom Lager abgesetzt und Kontakt zu Zivilpersonen in der nahen "Wald- und Gartenstadt Springhirsch" gesucht.

Unter anderem soll er sich bei ihm bekannten Frauen über seine Situation beklagt, ja sich "ausgeweint" haben, auch bei der als "Kommunistin" verschrienen Hertha Petersen. Sie war es u.a. auch, die für den französischen Gefangenen Richard Tackx aus dem Lager geschmuggelte Listen verwahrte, auf denen Tackx tote Kameraden verzeichnete, die er beerdigen musste. Nach dem Krieg machten massgeblich diese Listen die Identifizierung zahlreicher ermordeter Häftlinge möglich.

Nach Aussagen von Häftlingen ist Otto Freyer nie dabei gesehen worden, Häftlinge zu schlagen oder anders zu misshandeln. Andererseits erlaubte er seinen SS-Unterführern und dem SS-Unteroffizier Müller durch seine Abwesenheit "freie Hand" im brutalen Umgang mit den Gefangenen. Hoch urteilt daher: "Ohne Zweifel hätte er einen - wenn auch schmalen - Handlungsspielraum finden und nutzen müssen. Abbe Besancon (ein ehemaliger Häftling, d. Redaktion) hat es richtig erkannt: Der Lagerführer hätte das gewalttätige und unmenschliche Treiben der ihm direkt Unterstellten stoppen können. Er hätte das auch damals geltende Recht in einem gewissen Ausmaß zur Geltung bringen, der Brutalität seiner Untergebenen Einhalt gebieten können und müssen."

Schliesslich wurde Freyer auch im Januar 1945 ohne irgendwelche Nachteile für ihn zur Wehrmacht zurückversetzt, nachdem er erneut danach ersucht hatte. Hoch: "Für die SS-Führung entscheidend war weniger das Ungenügen dieses einen Mannes; der konnte ersetzt werden. Wichtiger war, dass das SS-Regime im Außenkommando Kaltenkirchen ungehindert fortgesetzt werden konnte. Das war mit Freyers Nachfolger Bernhard Waldmann gewährleistet", der laut Zeitzeugen wesentliche Verschlechterungen für Gefangene einführte und weit brutaler agierte. In Springhirsch wurden in wenigen Monaten mindestens 214, wahrscheinlich aber eher 700 Menschen durch Zwangsarbeit, mangelnde medizinische Versorgung oder direkte Gewalteinwirkung ermordet. Gerhard Hoch: "Otto Freyer hatte nicht den Mut, als Führer des KZ-Außenkommandos Kaltenkirchen in seinem Lager einigermaßen auf Recht und Menschlichkeit zu achten. Er sah und hörte weg, wo er hätte eingreifen müssen.

Während von seinem Nachfolger Waldmann keinerlei Selbszeugnisse bekannt sind und dessen Söhne nach Kräften verhinderten, dass etwas über ihren Vater bekannt wird, beteiligte sich Otto Freyers Sohn Gerhard an einer verlässlichen Darstellung des Bildes seines Vaters. Er hat sein tiefes Bedauern über den Weg des Vaters ausgedrückt und aktives Interesse an der KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen gezeigt. Gerhard Hoch Hoch beendet seinen Bericht über Otto Freyer mit einer bedrückenden Bewertung des Lagerkommandanten und seiner Generation: "Im Fall Freyer zeigt sich, dass Menschlichkeit durch Weichheit und Nachgiebigkeit ihre Kraft verlieren kann. Personen solcher Charakterstruktur waren (und sind) nicht von vornherein immun gegen eine Inanspruchnahme und Zumutung des Unrechts und der Gewalt. In ihm spiegelt sich die nach der Befreiung in Deutschland vorherrschende Mentalität: Inmitten der Bedrängnisse der Nachkriegsjahre, der "schlechten Zeit", die "Unfähigkeit zu trauern", das Ausweichen vor der Frage nach der Ursache der Nöte, die Abweisung des Gedankens an eine mögliche Mitverantwortung und ganz besonders der unwürdige Hang zum Selbstmitleid.