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Sonntag, 30. Mai 2004, 2:00 Uhr
Chronologie einer juristischen Peinlichkeit
Urteil gegen die kritische Berichterstattung eines Norderstedter Antirassisten zur Abschiebepraxis wurde aufgehoben
Vom Amtsgericht Norderstedt eingezogen, jetzt wieder dokumentierbar. Vorsichtshalber haben wir einige Passagen dennoch unkenntlich gemacht.
Infoarchiv | Im April 2000, vor nunmehr vier Jahren, dokumentierte der Abschiebegegner Olaf H. in einem Artikel die schockierende Vielzahl der Beschwerden eingesperrter Abschiebehäflinge in der JVA Glasmoor zu ihrer unzureichenden medizinischen Versorgung. Für die UnterstützerInnen der Flüchtlinge waren die Vorwürfe längst nichts Unbekanntes mehr: Seit Jahren schon erfuhren sie von den Flüchtlingen bei Besuchen, durch Briefe oder durch Zurufe über den Zaun, das die Gefangenen stets und bei jeder Erkrankung mit einer "Einheitspille", nämlich Aspirin oder Paracetamol abgespeist wurden.
Zu den zahlreichen Beschwerden zählten auch die Vorwürfe von Mahmoud Achmed G.. Der Mann, der kurz zuvor an der Niere operiert worden war, und zudem an einer chronischen Leberentzündung - einer Form der Hepatitis - litt, hatte seit Tagen Beschwerden und bat um medizinische Versorgung. Die bekam er dann auch. Aber erst nach Tagen, und zwar durch den Einsatz eines Notartztteams, welches gerufen wurde, nachdem er beim Hofgang bewusstlos zusammengebrochen war. Die Vorkommnisse in Norderstedt sind kein Einzelphänomen, sondern vielmehr ein Mosaikstein in der menschenverachtenden Abschiebepraxis, und ein Resultat des Asylbewerberleistungsgesetzes, welches vorsieht, Menschen nur noch in Notfällen zu behandeln. Für chronische Erkrankungen, sowie für nicht akute Leiden müssen sich Ärzte in der Behandlung von Flüchtlingen nach dieser Gesetzgebung nicht mehr verantwortlich fühlen. Es stellt sich also bei den MedizinerInnen, die im Auftrag von Justiz- oder Ausländerbehörde die Abschiebehäftlinge behandeln, nicht vorrangig die Frage nach der fachlichen Fähigkeit der Praktizierenden. Die Frage ist vielmehr, ob unter der herrschenden Gesetzgebung und den damit einhergehenden Behandlungsbedingungen eine humane, an dem "Gewissen des Arztes" orientierte Versorgung überhaupt möglich ist.
Dr. Hans Köhler, niedergelassener Internist und Arzt im Abschiebegefängnis Glasmoor "von der ersten Stunde an", fürchtete durch die Dokumentation seiner Behandlungsmethoden und deren spätere Verarbeitung in einem Flugblatt jedoch eine "Ehrverletzung" und erstattete Anzeige. Mit dieser Anzeige ist Dr. Köhler dann ohne Zweifel an den Richtigen geraten: Nämlich an Amtsrichter Reinhard Leendertz. Leendertz ist dafür bekannt, nicht allzu zimperlich zu verfahren. Schon vor Jahren machte er sich nicht nur in der hiesigen Presse, sondern auch im Lokalfernsehen zum Gespött, als er einen jungen Antifaschisten wegen Sachbeschädigung verurteilte, weil dieser eine Hakenkreuzschmiererei auf einem U-Bahnsitz unkenntlich machen wollte. Auch im Fall Olaf H. verfuhr der Richter mehr als unkonventionell, man könnte wohl seine folgenden Maßnahmen als "hyperaktiv" bewerten: Leendertz erhob nicht nur Anklage gegen den Norderstedter Antirassisten wegen Verleumdung, er genehmigte zudem auch die Durchsuchung der Privaträume des aktiven Gewerkschafters, und die Beschlagnahmung seines Rechners - zur Feststellung der tatsächlich nie strittigen Urheberschaft des Textes. In der Urteilssprechung ging der Richter seinerzeit sogar über die Strafmaßforderung von Staatsanwalt Ronsfeld hinaus: Die angebliche "Beihilfe zur Verleumdung in drei Fällen" sollte mit 50 Tagessätzen á 90 DM gesühnt werden. Olaf H. legte Berufung beim Kieler Landgericht ein, die Richter Leendertz in einem letzten Kraftakt beinahe verhindert hätte: Indem er schlicht behauptete, die Berufung wäre nicht fristgerecht eingegangen. Erst das Landgericht mußte feststellen, dass dies nicht den Tatsachen entsprach.
Zehn Monate später dann die Fortsetzung der Gerichts-Soap in der kleinen Strafkammer unter Richter Kluike. Bei diesem Juristen konnte von "Hyperaktivität" nicht die Rede sein. Kluike sprach von Anfang an von "Zeitverschwendung": "Ich weiß gar nicht, was sie hier wollen", lässt er sich zitieren. "Sie werden hier auch kein anderes Urteil bekommen", verlautete der Richter noch ehe die Beweisaufnahme auch nur begonnen hatte. Die Beweisanträge des Anwaltes wurden keines zweiten Blickes gewürdigt, ZeugInnen ließ der Richter erst gar nicht laden. Kluike machte mehr als deutlich, dass er nicht gedachte, Zeit an diesen Fall zu verschwenden und behauptete: "Meine Kollegen im Oberlandesgericht werden die Sache auch nicht anders sehen." Von dieser Aussage ließen sich aber weder der Baugewerkschafter Olaf H. noch sein Anwalt Ralf Ritter einschüchtern. Übrigens auch nicht die Richter Dr. Schwarz, Hohmann und Wüstefeld vom schleswig-holsteinischen Oberlandesgericht. Sie hoben Kluikes Urteil nach entsprechendem Revisionsantrag der Verteidigung recht nachdrücklich auf.
Am 24. Mai dieses Jahres hatte Olaf H. daraufhin seinen dritten Gerichtstermin. Nach einer genauen Vernehmung des damaligen Anstaltsleiters des Abschiebegefängnisses in Glasmoor - Szymanski - und nach Befragung des Arztes Dr. Köhler, war für Richter Jaggi klar, dass er das ursprüngliche Urteil des Norderstedter Amtsgerichts aufheben und das Verfahren in Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft einstellen würde. Mehrfach fragte Jaggi während Dr. Köhlers Zeugenaussage nach, wie dieser sich mit Abschiebehäftlingen verständigt hat, die kein deutsch sprechen. Der Anstaltsleiter hatte dazu ausgesagt, für diesen Fall hätte der Arzt die Möglichkeit gehabt, über das Rote Kreuz DolmetscherInnen zu beantragen. Als der Internist dazu befragt wurde, wie oft er einen solchen Antrag gestellt habe, sagte er aus, in seiner zehnjährigen Behandlungspraxis in Glasmoor habe er sich genau ein mal die Mühe gemacht, einen solchen Antrag zu stelllen. Als der Verteidiger nachfragte, wie Dr. Köhler denn in der Behandlung mit Menschen, die nicht seine Sprache sprechen, nachprüfen könne, ob sie überhaupt verstünden, was er ihnen sage, antwortete Köhler unter anderem: "Das ist eine gute Frage." Und als der Richter Auskunft darüber haben wollte, ob und wie oft der Zeuge Aspirin oder Paracetamol verabreichte, entgegnete der Arzt barsch: "Warum wollen sie das wissen?" Kein Wunder also, dass der Richter zunehmend Schwierigkeiten hatte, an eine angemessene medizinische Versorgung im Abschiebeknast zu glauben. So teilte er am Ende der Beweisführung seinen Eindruck mit und gab an, nicht "mit ruhigen Gewissen und voller Überzeugung", davon ausgehen zu können, dass die Vorwürfe gegen Dr. Köhler unwahr sind.
In den letzten vier Jahren seit Beginn des Verfahrens hat sich derweil so einiges verändert: Das Abschiebegefängnis Glasmoor ist inzwischen verlegt worden in die Haftanstalt Santa Fu (Hamburg-Fuhlsbüttel). Dieser Umzug bedeutet für die Inhaftierten ein Verschärfung ihrer Situation. Nicht nur die Haftbedingungen sind in Fuhlsbüttel noch härter, als sie es in Glasmoor bereits waren. Auch die Möglichkeit der UnterstützerInnen mit den Gefangenen in Kontakt zu kommen und sie zu besuchen, ist erschwert. Dr. Hans Herbert Köhler wird seit diesem Umzug keine Abschiebegefangenen mehr behandeln, er kann sich statt dessen seinen Veröffentlichungen im "Nordlicht - Magazin" der schleswig-holsteinischen kassenärztlichen Vereinigung widmen, und vehement die Kürzungen der Leistungen der Krankenversicherer einfordern. Vor einiger Zeit engagierte er sich beispielsweise dafür, dass die Kassen nicht länger für Verhütungsmittel oder für die Zahlung von Sterbegeld aufkommen sollen.
Das Urteil gegen Olaf H. ist aufgehoben worden, an der brutalen Abschiebepraxis und der unzureichenden medizinischen Betreuung der Flüchtlinge hat sich aber nichts geändert, eher im Gegenteil. Im April versuchten sich in Fuhlsbüttel drei Flüchlinge das Leben zu nehmen. Ein Mensch verstarb, ein anderer liegt mit der Diagnose "Gehirntod" im Koma. Eine weitere aktuelle Schreckensmeldung ist die Massenabschiebungen in die Diktatur Togo. Ein Land, von dem bekannt ist, dass Menschen ermordet , gefoltert und inhaftiert werden. Eines ist also nach dem Prozess gegen Olaf H. unbestritten: Die oftmals tödliche deutsche Abschiebepraxis und die Tätigkeit ihrer Exekutive können gar nicht genug "verunglimpft" werden.