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Montag, 8. November 2010, 1:00 Uhr
AKW-Proteste: Wendland ist Treckerland
Der Bauer an sich ist stur
Hans-Georg (Felix) Becker | Die Auftaktveranstaltung am Samstag, 6. November 2010, mit bis zu 50.000 TeilnehmerInnen in Dannenberg war eine wirkliche Großveranstaltung. Sicher waren zu keine Zeit alle angenommenen 50.000 zur gleichen Zeit auf der Veranstaltungswiese. Aber selbst gegen 16 Uhr (offizieller Beginn 13 Uhr) strömten noch große Menschenmengen auf dem Weg von den weit vorgelagerten Parkplätzen zur Wiese, während ihnen viele Menschen entgegen kamen, die sich schon auf den Weg in die Camps gemacht hatten oder den Heimweg antraten. Der Fußweg von den Parkplätzen konnte schon mal 1 1/2 Stunden dauern. Während der Veranstaltung hielten sich die Polizeikräften nach meiner Wahrnehmung weitgehend zurück. Nur einmal machte sich ein Trupp von ca. 20 Einsatzkräften auf den Weg über einen angrenzenden Acker um danach ein wenig ziellos durch die Gegen zu laufen, als ob jemand seine Schlüssel verloren hätte. Auf dem Rückweg der sinnlosen Aktion versuchten sie dann durch die zur Festwiese strömenden Menschenmengen hindurch auf die Festweise zu gelangen. Auch darin war kein Sinn zu erkennen. Die Aktion weckte natürlich den Unmut der Demonstrationsteilnehmer, es kam zu kleinen Rangeleien und - schwuppdiwupp - waren einzelne PolizistenInnen von ihren KollegInnen getrennt. So was mögen die ja gar nicht. Nachdem sich die Gruppe relativ tölpelhaft wieder zusammen gefunden hatte, marschierten sie (zu den Rufen "Haut ab, haut ab") zu ihrem Lager zurück. Die Veranstalter mussten kurz vor dem Ende der Auftaktkundgebung die Polizeileitung per Lausprecherdurchsage auffordern, das "Herumstreifen" von Beamten auf dem Veranstaltungsgelände zu unterlassen. Ansonsten war es nach meinem Eindruck eine bunte, friedliche und vielfältige Protestkundgebung. Eine Übernachtung in Dannenberg oder Umgebung scheiterte an fehlenden Übernachtungsplätzen ? oder an unserem fehlenden Organisationstalent. Jedenfalls fuhren wir mit dem PKW am späten Abend nach Norderstedt zurück um am nächsten Mittag wieder zurück zu kommen.
Eigentlich wollten wir zu Freunden aus Norderstedt nach Hitzacker, um uns an den dort stattfindenden Gleisblockaden zu beteiligen. Aber rund 30 Kilometer vor unserem Ziel war die Fahrt gegen 13 Uhr zu Ende. Bauern hatten mit 15 Treckern eine Kreuzung in Göhrde dicht gemacht. Die Trecker waren teilweise auf kunstvolle Weise ineinander verschlungen, es mussten offenbar dringende Reparaturen durchgeführt werden, was die Startfähigkeit einzelner Maschinen unmöglich machte. Andere bauten ihr Hinterrad ab um da einmal nach dem Rechten zu sehen und die Trecker waren erst einmal fahruntüchtig. Die Stimmung war blendend. Besonders freute man sich seitens der "bäuerlichen Notgemeinschaft", dass es gelungen war, an drei neuralgischen Punkten gleichzeitig Treckerblockaden einzurichten. Das führe zwar dazu, dass viele mit dem PKW anreisende nicht zu ihrem Wunschziel kamen ? aber Blockade ist Blockade. Da ist der Bauer an sich ganz stur. Aber dadurch ergab es sich, dass in Göhrde ein munter zusammengewürfeltes Völkchen gemeinsam die Straße besetzte. Anwohner und ein naheliegendes Cafe (welches auch 5-Euro-Übernachtungsplätze in den eigenen Ferienwohnungen angeboten hatte) versorgten alle mit Kaffee, Tee, Kuchen Keksen und Suppe. Die Feuertonne mitten auf der Kreuzung wärmte und als dann noch ein Transporter seine Hintertür aufklappte, die Lichterkette und den Verstärker anwarf um fetzigen Protestrock zu spielen, waren sich alle einig: das kann noch lange dauern. Über das "Radio freies Wendland" wurden wir über die aktuelle Entwicklung auf dem Laufenden gehalten. Die Meldung, dass AktivistInnen an einigen Orten völlig ungehindert an die Gleisbetten kamen, wurde durchgegeben und passte zu der Tatsache, dass sich bei der Gördener Treckerblockade keine Einsatzkräfte blicken ließen. Natürlich war es Sinn der Blockaden, dass die Transportwege der Polizei extrem eingeschränkt waren. Weder konnten Kräfte verlegt werden noch konnte das erschöpfte Personal ausgetauscht werden. So waren die Einsatzkräfte ein vielen Stellen hoffnungslos unterbesetzt, was deren Einschreiten verhinderte. Auf einmal kamen ein Wasserwerfer und ein Räumfahrzeug den Berg herunter gefahren und hielten in respektablen Abstand. Da kam aber Leben in die Bude. Einige Bauern sprangen auf ihre Trecker und keilten die beiden Polizeifahrzeuge vorne und hinten ein. Millimeterarbeit. Sie schalteten die Strahler auf den Dächern der Trecker an und fluteten den Innenraum des Wasserwerfers mit Licht. Auch die herunter gezogene Sonnenblende verschaffte den geblendeten Polizisten keine Erleichterung, weil nun seitlich stehende Trecker ihr Licht einschalteten. Nach kurzen Verhandlungen wurde das Licht abgeschaltet aber die erbeuteten einsatzfahrzeuge blieben in Besitz der bäuerlichen Notgemeinschaft. Nach einer Weile kamen von Richtung Lüneburg 10 bis 15 Transporter der Polizei voll mit Personal, hielten vor der Blockade an, wunderten sich über dieselbe und fuhren alle wieder weg. Allein wegen des Bildes der vielen, vielen zuckenden Blaulichter, die langsam auf der aufsteigenden Straße im Dunkel der sternenklaren, frostigen Nacht verschwanden, hatte sich die Blockade gelohnt. Gegen 20 Uhr fuhren wir mit unserem Auto Richtung Oldendorf. Kurz hinter Oldendorf befand sich ein Camp an einer Straßenbrücke über die Bahngleise. Die "Camper" hatten nun ihrerseits die Straße mit Strohballen und einem gigantischen Kunstwerk blockiert. Also, austeigen und mitmachen. Blockadehopping vom Feinsten. Auf den Gleisen saßen bereits um die 100 Personen. Wir gesellten uns dazu (allerdings stehend, da ich Sorge hatte nach zwei Stunden Sitzen in der Kälte meine Beine nie wieder bewegen zu können). Da es noch mehr derartige Bedenkenträger gab, bildete diese Gruppe einen stehenden Schutzwall vor den sitzenden BlockiererInnen. Als sich der Vor-Zug des Castortransportes (ein Reparaturwagen für etwaige Schäden am Gleiskörper) androhte, forderte die örtliche Einsatzleitung die Demonstranten zum Verlassen der Gleise auf. Die Presse war massenhaft anwesend. Unter einem irren Blitzlichtgewitter und bestens ausgeleuchtet durch die Fernsehkameras begannen die Polizisten mit der Räumung der Gleise. Formvollendet: "Möchten Sie die Gleise freiwillig verlassen? Möchten sie weggetragen werden?" Griff einer der Beamten zu hart zu, wurde er (oder sie, woran soll man das erkennen?) sofort von einem der was zu sagen hatte zurückgepfiffen ? solange bis die Presse weg war. Dann sollte alles offenbar schneller gehen und die Gangart wurde rabiater. Ich versuchte die mir gegenüberstehenden Beamten in ein laustarkes Gespräch über Demokratie, Verhältnismäßigkeit der Mittel und ihre völlig überzogene Art und Weise der Drangsalierung der wegzutragenden BlockiereInnen zu verwickeln. Irgendwann hatte einer der genervten Polizisten offenbar die Schnauze von meinem Gekeife voll, zerrte mich von den Schienen weg und brachte mich zu einem kleinen "Kessel" und stopfte mich zu den anderen in-Gewahrsam-genommenen. Meine Frau und mein 14jähriger Sohn kamen freiwillig hinterher. Aus Solidarität. Oder weil ich den Autoschlüssel hatte. Im Kessel erfuhr ich, dass mein Sohn, obwohl freiwillig von den Gleisen gegangen, derbe geschubst worden war. Darauf textete ich einen der "Kesseltreiber" von wegen Sippenhaft und so weiter zu. Nachdem alle BlockiererInnen von den Gleisen gepflückt waren, wurde der Kessel auf der Rückseite geöffnet und alle konnten gehen. Kurze Zeit später passierte der Vor-Zug die Unterführung und fuhr Richtung Dannenberg. Über "Radio Zusa" hatten alle erfahren, dass der Castor-Zug heute nicht weiterfahren würde (er stand zu diesem Zeitpunkt einige Kilometer vor unserem Blockadepunkt) und mit Natodraht eingewickelt in Dahrenburg stehen blieben würde. Alle, nur nicht die Polizei. Diese sperrte nun ihrerseits die Brücke, weil sie den Castortransport erwartete. Der kam natürlich nicht, denn auf dem Weg nach Dannenberg hatten in Harling auf einer Strecke von ca. 2000 Metern bis zu 5000 BlockiererInnen die Gleise besetzt. Unmöglich zu räumen. Diese Einsicht kam der Polizei erst gegen 23:30 Uhr. Sie machten die Brücke wieder auf und viele der Aktivistinnen machten sich auf den Heimweg. Wir auch. Auf der Fahrt nach Lüneburg fuhren wir an über 30 Mannschaftswagen der Polizei vorbei und über 30 kamen uns noch entgegen. Alle ohne Hoffnung auf ein Weiterkommen, da die Treckerblockaden immer noch standen. Auch das ein wunderbares Bild.
Den Verlauf der Ereignisse im gesamten Wendland kann hier nachgelesen werden.
Der Autor ist Redaktionsmitlied des Info-Archivs und Mitglied der Fraktion DIE LINKE in der Norderstedter Stadtvertretung