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Mittwoch, 16. November 2011, 10:54 Uhr

Die Rede des Norderstedter "OB" im Wortlaut

Hans-Joachim Grote zum 9. November

Gedenkveranstaltung am 9. November (Foto: Kilian Henrik Lembke)

Gedenken am 9. November 2011, TeilnehmerInnen (v.l.): Norderstedts Stadtpräsidentin Kathrin Oehme, Marommes Bürgermeister David Lamiray, Ayala Nagel (Chaverim), Heike Linde-Lembke (Chaverim), Norderstedts Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote und Nathalie Peltier, Büroleiterin der Marommer Stadtverwaltung. (Foto: Kilian Henrik Lembke)

Infoarchiv Norderstedt | Am diesjährigen Jahrestag der Novemberpogrome des Jahres 1938 versammelten sich wieder rund 40 Menschen an der KZ-Gedenkstätte Wittmoor im Norderstedter Stadtteil Glashütte, um an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Im folgenden dokumentieren wir die Rede von Oberbürgermeister Hans-Joachim Grote (CDU), in der er die wechselhafte Geschichte des Gedenkens am 9. November skizziert und zu Wachsamkeit gegenüber Rassismus, Antisemitismus und eigener Gleichgültigkeit aufruft.

Hans-Joachim Grote

Hans-Joachim Grote

Sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin Oehme,

Sehr geehrte Frau Linde-Lembke,

sehr geehrte Frau Nagel,

besonders begrüße ich Herrn David Lamiray, den Bürgermeister unserer französischen Partnerstadt Maromme und seine Büroleiterin Frau Nathalie Peltier, die heute gemeinsam mit uns der Opfer von Krieg Terror und Gewalt gedenken – herzlich Willkommen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, am 9. November denken wir hier in Norderstedt, denken Menschen in ganz Deutschland und in aller Welt an ein furchtbares Verbrechen, an die systematische Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Den 9. November verbinden Millionen Menschen mit Gewalt, Verfolgung und Verlust und sie denken an ihre Angehörigen, die sie im Dritten Reich verloren haben – viele denken an die schlimmste Zeit ihres Lebens.

In Norderstedt kommt immer wieder ein kleiner Kreis zusammen, um am 9. November dieser Verbrechen und vor allem der verfolgten Menschen gemeinsam zu gedenken, ein Kreis der sich aber auch ganz persönlich immer wieder hinterfragt. Meine Damen und Herren, die Form der Erinnerung hat sich seit 1945 erheblich gewandelt. Bis 1958 waren meist lokale jüdische Gemeinden die Hauptträger der Veranstaltungen, unterstützt von anderen Opfergruppen wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, gewerkschaftlichen und außerparlamentarischen Oppositionsgruppen. Sie wandten sich gemeinsam gegen neue antisemitische Tendenzen, zu langsame und mangelnde Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen und unzureichende Wiedergutmachung.

Gedenkveranstaltung am 9. November (Foto: Kilian Henrik Lembke)

Gedenkveranstaltung am 9. November (Foto: Kilian Henrik Lembke)

Seit 1963 wurde der 9. November in den meisten betroffenen Orten regelmäßig als Gedenktag an die sogenannte „Kristallnacht“ begangen. Im Vordergrund standen dabei die Gewalt und Zerstörung einer einzigen Nacht, während die folgende Deportation in die Konzentrationslager, die Arisierung und die Rolle der Zuschauer vielfach kaum bedacht wurden. Bis 1973 ging die Zahl dieser Gedenkveranstaltungen und die Teilnahme daran zurück. Aktuelle politische Ereignisse, der Yom-Kippur-Krieg oder der 50. Jahrestag des Hitler-Ludendorff-Putsches überschatteten das Datum. Zum 40. Jahrestag 1978 wurde der 9. November auf Bundesebene als festes Erinnerungsdatum fest geschrieben. Aktionswochen und Schweigemärsche gegen Neonazismus fanden starken Zuspruch. Gegenüber 1973 verzehnfachte sich die Anzahl der Gedenkveranstaltungen. Die jüdische Verfolgungsgeschichte wurde seitdem differenzierter wahrgenommen, erforscht und gewürdigt. Der Begriff „Reichskristallnacht“ wurde kritisch hinterfragt und die historische Einordnung der Novemberpogrome als Beginn der Endlösung erörtert. Besonders die Haltung des damaligen Publikums als Komplizen oder schweigende Zuschauer wird seitdem vermehrt diskutiert.

 

Der fünfzigste Jahrestag 1988 geriet dann jedoch zum Skandal: Die Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger wirkte in Teilen wie eine Entschuldigung der Mitläufer des Nationalsozialismus – was schließlich zu seinem Rücktritt führte. Trotz des Eklats im Bundestag fand der 9. November seinen festen Platz in der kommunalen und regionalen Erinnerungskultur. Seit einigen Jahren wird insbesondere auch die spezifische Lokalgeschichte genauer untersucht und in das Gedenken einbezogen. Darum versammeln wir uns heute hier. An dieser Stelle mein besonderer Dank an den Verein CHAVERIM - Freundschaft mit Israel, Frau Linde-Lembke und Frau Nagel, dass Sie sich schon seit vielen Jahren (2000) um diese Gedenkveranstaltung bemühen und kümmern.

9. November 2011, Gedenkstätte Wittmoor (Foto: Infoarchiv)

9. November 2011, Gedenkstätte Wittmoor (Foto: Infoarchiv)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen Aspekt besonders hervorheben. Wie sah es mit der Haltung des damaligen Publikums als Komplizen oder schweigende Zuschauer aus? Erlauben Sie mir die Frage: Wie sieht es mit der Haltung des Publikums heute aus? Sind wir Komplizen oder „nur“ schweigende Zuschauer? Dazu ein Zitat aus dem Buch „Kristallnacht“ von Sven Felix Kellerhoff:

  • …einmal mehr erwies sich, dass solche Ausschreitungen zwar nur von einer Minderheit begangen, aber von der ganz überwiegenden Mehrheit geduldet wurde – wenn auch häufig mit großer Scham.

Wie sieht die Haltung des Publikums heute aus? Sind wir Komplizen? Schweigende Zuschauer? Unter der Überschrift „Ein Appell für Zivilcourage: Wir dürfen nicht schweigen“ hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der zentralen Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht am 9. November 2008 dazu aufgerufen, gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen. Merkel warnte vor Gleichgültigkeit gegenüber Rassismus und Antisemitismus (Zitat):

  • Gleichgültigkeit ist der erste Schritt, unverzichtbare Werte aufs Spiel zu setzen…Zur NS-Zeit habe die Mehrheit der Deutschen nicht den Mut zum Protest gegen die Nazi-Barbarei gehabt. Es sei aber ein Irrglaube, sich nicht betroffen zu fühlen, wenn es um das Schicksal des Nachbarn gehe. Dieser Irrglaube führt uns immer weiter ins Unheil",

so die Kanzlerin. Wie sieht die Haltung des Publikums heute aus? Sind wir Komplizen? Schweigende Zuschauer? Ich meine wir müssen mit Blick auf die Nazizeit immer wieder Fragen stellen. Fragen, auf die wir möglicherweise nie eine Antwort bekommen:

  • Wie waren solche Verbrechen überhaupt möglich?
  • Wie konnten Millionen ihr Gewissen ausschalten und zu schweigenden Zuschauern werden?
  • War es reine Pflichterfüllung?
  • Gab es historische oder gesellschaftliche Gründe?
  • Kann eine ähnliche Situation wiederkommen?

Fragen, die uns an einem solchen Tag bewegen und bewegen sollten. Und Fragen, die mahnen. Fragen, die zu Wachsamkeit aufrufen und die uns alle gemeinsam heraus fordern. Aus diesem Grund haben wir uns heute hier versammelt. Lassen sie uns auch in Zukunft Fragen stellen. Lassen Sie uns die Haltung des „Publikums“, aber auch unsere ganz persönliche, immer wieder hinterfragen? Bin ich Komplize? Bin ich schweigender Zuschauer? Lassen Sie uns gemeinsam für die Freiheit, für die Menschenrechte und für die Gerechtigkeit einstehen, damit sich Geschichte nicht wiederholt.

Hans-Joachim Grote, 9. November 2011 an der KZ-Gedenkstätte Wittmoor.