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Donnerstag, 30. Oktober 2014, 23:37 Uhr
Linke Nummer
Ein Schwerbehinderter. Ein entfallender Arbeitsplatz. Ein passender Verdacht?
Olaf Harning | Die Lösung innerbetrieblicher Konflikte bedarf oft großen Fingerspitzengefühls. Erst recht, wenn dabei Persönlichkeitsrechte von Beschäftigten eine Rolle spielen und der Vorwurf der sexuellen Belästigung im Raum steht ...
Ilyas D. (42) weiß, was Schmerzen sind. Es war der 14. Januar 1991, als er auf der Autobahn 1 bei Stapelfeld seinen Wagen verließ, um einem Verunglückten zur Hilfe zu eilen. Ein nachfolgendes Fahrzeug quetschte ihn gegen das Heck seines Wagens und schliff den bereits schwer verletzten Körper meterweit mit. „Es war alles kaputt“, zählt D. fast teilnahmslos auf, „Schlüsselbein, Becken, Blutungen im Kopf, ausgetretene Innereien“. Zeugen des Unfalls hatten ihm schon eine Decke über den Kopf gezogen, als der Rettungshubschrauber landete, doch es sollte noch nicht zu Ende sein. Drei Jahre lag der zum Unfallzeitpunkt 20jährige im Krankenhaus, musste 28 Operationen über sich ergehen lassen – darunter die Teilamputation seines linken Unterschenkels. Heute sorgen täglich 75mg Lyrica und eine Dosis Morphium dafür, dass die Schmerzen im erträglichen Rahmen bleiben, dass er trotz seiner hundertprozentigen Schwerbehinderung eine gewisse Lebensqualität, Freunde und seine Familie genießen kann.
Und seinen Job. Seit 13 Jahren arbeitet Ilyas D. als Technischer Zeichner für die Waldemar Link GmbH, bzw. ihre Tochterfirma Deru. Hier, im Norderstedter Gewerbegebiet Oststraße, stellen rund 300 Link-Mitarbeiter medizinische Produkte wie künstliche Gelenke, Prothesen oder chirurgische Instrumente her, die zuvor von ihm und seinen Kollegen gezeichnet wurden. Doch immer seltener werden solche Zeichnungen per Hand gefertigt und immer häufiger von Ingenieuren. Der Technische Zeichner ist hier ein Auslaufmodell – erst recht in seinem Arbeitsbereich, der technischen Dokumentation. „Das inhabergeführte Unternehmen (…) verfolgt (…) ehrgeizige wirtschaftliche Ziele“, heißt es im Leitbild von Waldemar Link. „Kollegialität, Fairness und gegenseitige Unterstützung bestimmen unser Handeln – nach innen, wie nach außen“. Bis Anfang August 2013 glaubte D. solche Sätze.
"Wie ging es Ihrer Meinung nach Frau (...) dabei?" Mit einem grotesken Fragenkatalog setzte das Unternehmen Ilyas D. unter Druck (Foto: Infoarchiv).
Damals kehrte er von einer Reha-Maßnahme zurück, war nach drei Wochen froh, wieder bei seiner Familie zu sein. Doch als er am nächsten Morgen mit der Post vom Briefkasten kam, war sämtliche Freude verflogen. „Sehr geehrter Herr D.“, las er da in einem Schreiben seines Arbeitgebers, „uns wurde mitgeteilt, dass Sie im Beisein von Mitarbeiterinnen an ihrem Arbeitsplatz onanieren.“ Und nicht nur das: In einer seiner Schubladen, teilte ihm der Justiziar der Waldemar Link GmbH mit, habe man bereits Mitte Juli - im Beisein des Betriebsratsvorsitzenden - „einen Lappen mit weißlichen, erhärteten Anhaftungen“ sichergestellt und sogleich auch analysieren lassen. Ergebnis: Es „ergibt sich ein Hinweis auf das Vorliegen von Sperma.“ Bereits seit März 2013, erfuhr D. wenig später, hatte eine Arbeitskollegin bei ihm verdächtige Handbewegungen hinter dem Schreibtisch beobachtet. Erst habe er sich versichert, dass niemand außer den Beiden im Raum ist, dann etwa 20 Minuten lang Masturbationsbewegungen durchgeführt. Immer wieder und in der Woche zwischen dem 17. und 21. Juni letzten Jahres dann mehrmals täglich, gab die Frau zu Protokoll.
Einmal davon abgesehen, dass D. in der genannten Woche gleich an mehreren Tagen nicht im Betrieb war, sich sein Büro mit insgesamt vier Kolleginnen und Kollegen teilt und sich sein Arbeitsplatz unmittelbar vor einer großen, von gegenüber gut einsehbaren Glasscheibe befindet, kommt nun ein weiteres Detail aus seiner Krankenakte zum Tragen: Mehreren neurologischen Gutachten zufolge, ist der 42jährige aufgrund schwerster körperlicher Folgeschäden seines Unfalls gar nicht in der Lage, auf herkömmliche Weise zu masturbieren - geschweige denn Sperma zu produzieren.
Doch als D. sich am 20. August erstmals nach Bekanntwerden der Vorwürfe wieder zum Dienst meldete, fand er seinen Arbeitsplatz schon nicht mehr vor. Stattdessen, so D., habe man ihm ein Einzelbüro auf der anderen Straßenseite zugewiesen - ohne ausreichendes Arbeitsmaterial, ohne konkrete Aufgabenstellung. Stattdessen erschienen kurz nach Arbeitsbeginn Justiziar und Betriebsrat. Ob er sich so seine Zukunft im Unternehmen vorstelle, sollen sie gefragt haben, und: warum er nicht einen Aufhebungsvertrag unterschreiben wolle. Das stritt der Firmenjurist zwar später ab, nicht aber die noch am selben Tag einberufene Abteilungsversammlung, auf der er etwa 20 Mitarbeitern detailliert schilderte, was D. zur Last gelegt wird. Dabei war zuvor vereinbart und sogar schriftlich festgehalten worden, dass genau dies nicht geschehen soll: Es werde versichert, heißt es in einem Gesprächsprotokoll vom 9. August, „dass der Kreis der bis jetzt informierten Mitarbeiter des Hauses Link/Deru sehr klein sei.“ Und weiter: „Intern habe man kommuniziert, dass Herr D. erkrankt sei. Dies würde man auch weiter so halten.“
Auch Feinmechaniker Viktor B. musste sich mit einer ungerechtfertigten Kündigung auseinandersetzen. Am Ende akzeptierte er eine hohe Abfindung (Foto: Infoarchiv).
Nun ist es nicht das erste Mal, dass die Waldemar Link GmbH im Zusammenhang mit einem rabiaten Kündigungsversuch auffällt. Es war im Juni 2009, als der Feinmechaniker Viktor B. – quasi in flagranti – beim Diebstahl eines 450 Euro teuren Werkzeugs erwischt wurde. Das Problem: Dieses Werkzeug war eine praktisch unverkäufliche Spezialzange, die auch für B. keinerlei erkennbaren Gebrauchswert besaß. Und den Diebstahl gemeldet hatte ein Detektiv, der unmittelbar nach jener Betriebsversammlung auf B. und seine Kollegen angesetzt worden war, in deren Rahmen sich der Beschäftigte lautstark über unbezahlte Mehrarbeit beschwert hatte. Am Ende scheiterte sowohl die Zivilklage gegen B., als auch seine Kündigung – die Gerichte hielten die Aussagen des Detektivs für wenig glaubwürdig. Der Feinmechaniker verließ die Firma schließlich nach 37 Jahren Betriebszugehörigkeit „freiwillig“ - gegen Zahlung einer hohen Abfindung.
Auch mit der Kündigung des Ilyas D. ist das Unternehmen vor dem Arbeitsgericht Neumünster mit Pauken und Trompeten gescheitert. „Die überwiegend weiblich besetzte Kammer“, heißt es in der Urteilsbegründung vom 20. März, „vermag (…) den von der Beklagten geäußerten Verdacht (…) nicht nachzuvollziehen.“ Zuvor hatten sowohl das zuständige Integrationsamt, als auch der Betriebsrat der Waldemar Link GmbH der Kündigung zugestimmt, ohne je direkt und vertraulich mit D. über den Fall gesprochen zu haben. Neben seiner Weiterbeschäftigung erreichten die Anwälte D.´s, dass der Arbeitgeber die Schuldbehauptungen gegenüber ihrem Mandanten unterlassen muss. Außerdem wurde das Unternehmen in erster Instanz zur Zahlung von 1500 Euro Schadensersatz verurteilt – wegen Diffamierung und Verletzung der Persönlichkeitsrechte seines Beschäftigten. Für Hans-Günther Winkelmann liegt der Grund der Eskalation weniger im Verhalten seines Mandanten, als vielmehr im Interesse des Arbeitgebers: „In meinen Augen haben wir hier den Versuch, einen Schwerbehinderten loszuwerden und ihm die Fortführung des Arbeitsverhältnisses zu verleiden“, so der Arbeitsrechtler. „Und wenn die Eheleute D. nicht derart zusammengehalten hätten“, fügt er noch hinzu, „wäre der Mann wohl irgendwann eingeknickt.“
Wie es zu der Aussage der betroffenen Frau gekommen ist und woher das ominöse Tuch mit den „Anhaftungen“ stammt, kann D. bis heute nur vermuten. So trug er bei seinem Unfall und den späteren Teilamputationen schwere Vernarbungen davon, die er regelmäßig massiert, um Phantomschmerzen und ein unangenehmes Stechen zu bändigen. „Das merke ich schon gar nicht mehr“, sagt er leise, „vielleicht hat sie meine Handbewegungen einfach missverstanden.“ Eine geforderte DNA-Probe lehnt er auf den Rat seiner Anwälte hin ab. Nicht Wenige sehen darin eine Art Schuldeingeständnis – Behinderung und neurologische Gutachten hin oder her. Viele seiner Kollegen haben die Geschichten ohnehin geglaubt, die da am 20. August oder später über ihn erzählt wurden. „Auf den Fluren“, sagt er, „grüßen sie nicht mehr, nennen mich hinter vorgehaltener Hand nur ´der Wichser`“.
Was Ilyas D. und seine Frau trotzdem hochhält, was ihnen Mut und Kraft gibt, sind all die Anderen. Die, die nicht sofort alles glauben, was das Unternehmen verlauten lässt. Die auf ihr Gefühl und ihre Menschenkenntnis vertrauen. Zum Beispiel jene sechs Kolleginnen und Kollegen, die sich eines Abends, kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe, bei ihnen einfanden, und genau die Fragen stellten, die Betriebsrat, Vorgesetzte und die übrigen Kollegen längst hätten stellen sollen. An diesem Abend hat Ilyas D. seine Geschichte erzählt. Die Geschichte, die mit einem furchtbaren Autounfall beginnt und mit dem Wichser D. endet. „Danach haben wir alle zusammen geweint“, erinnert er sich. Und sieht dabei aus wie Einer, der schwankt. Aber nicht fällt.
Sowohl der Justiziar der Waldemar Link GmbH, als auch der Betriebsratsvorsitzende des Unternehmens wollten sich trotz mehrfacher Anfrage nicht zum Fall Ilyas D. äußern.
Dieser Artikel ist zunächst in der Berliner Tageszeitung "Neues Deutschland" erschienen.