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Sonntag, 12. Juni 2005, 2:00 Uhr
Flüchtlingsrat fordert Rückholung von Besime Özdemir
+++ REFUGIO, behandelnde Ärzte und Ärztekammer Schleswig-Holstein verurteilen Abschiebung +++ Ärztekammer: "Verwaltungshandeln bedenklich und fahrlässig" +++ 16jähriger Sohn wieder aufgetaucht und legalisiert +++ Vater weiter in Abschiebehaft +++ Flüchtlingsbeauftragter "empört" +++ Polizei Norderstedt: "nächtliche Abholung keine taktische Absicht" +++
Von Olaf Harning | Am 25. Mai kam es in Norderstedt unter Einsatz der örtlichen Polizei und eines Sondereinsatzkommandos (SEK) zur nächtlichen Abholung und Deportation der kurdischen Familie Özdemir aus ihrer Wohnung im Buchenweg. Doch die bisher in Schleswig-Holstein beispiellose Aktion der Ausländerbehörde Segeberg, bzw. deren Mitarbeiter Bonus und Matthießen endete im Fiasko: Die in Folge von in der Türkei erlittener Polizeigewalt schwer traumatisierte Besime Özdemir brach bei der gewaltsamen Abschiebung zusammen. Dessen ungeachtet wurde sie im Beisein eines Arztes des Landesamtes für Ausländerangelegenheiten mit drei ihrer Kinder in ein Auto der Norderstedter Polizei gedrängt, direkt zum Düsseldorfer Flughafen gefahren und nach Istanbul abgeschoben. Der suizidale, ebenfalls traumatisierte Vater leistete unter Schock symbolischen Widerstand, ließ sich schließlich vom SEK überwältigen und wurde in Abschiebungshaft genommen. Sein 16jähriger Sohn konnte zunächst fliehen, stellte sich später mit Hilfe des Flüchtlingsrates den Behörden. Dem Jungen wurde mittlerweile eine eng bemessene Duldung ausgesprochen.
Während sowohl der Flüchtlingsrat, die Norderstedter Migrationsberatung, die Anwältin der Familie, sowie verschiedene InsiderInnen der Schleswig-Holsteinischen Flüchtlingspolitik nach der überfallartigen Aktion den Beginn eines neuen "Stils" der Abschiebepraxis in Schleswig-Holstein befürchten, wie sie im benachbarten Hamburg seit Jahren vorgeführt wird, äußerte der für die Durchführung der Abschiebung verantwortliche Norderstedter Polizeichef Dieter Aulich Unverständnis für solche Sorgen. Aulich zufolge sei die frühmorgendliche Abholung um 4 Uhr keinesfalls taktischer Natur, sondern Resultat des gebuchtes Fluges ab Flughafen Düsseldorf. Wie Aulich dem Info Archiv weiter erklärte, habe man nach entsprechender Anfrage der Segeberger Ausländerbehörde zunächst vier Beamte für die Abschiebung bereitgestellt, später seien mehrere Streifenwagenbesatzungen hinzugezogen worden, bevor schließlich das Sondereinsatzkommando die Überwältigung von Akif Özedemir übernommen hat. Der Transport nach Düsseldorf wiederum sei von Norderstedter Beamten durchgeführt worden, was - so Aulich - "erheblichen organisatorischen Aufwand" bedeutet habe.
Im Rahmen der Presseerklärung vom Mittwoch, den 8. Juni berichteten Leman Rüschemeyer und Gisela Nuguid (Mitarbeiterinnen kirchlicher Beratungseinrichtungen), Frau Özdemir habe nach stundenlangen Verhören durch türkische Sicherheitsdienste in Istanbul zunächst Obdach bei einer Cousine gefunden. Der den Abschiebeflug begleitende Arzt habe die unter Schock stehende Frau noch nicht einmal in ärztliche Obhut übergeben. Nuguid weiter: "Für eine Fortführung der medikamentösen und therapeutischen Behandlung, aus der sie durch die unangekündigte Abschiebung herausgerissen wurde, wurde nicht Sorge getragen. Frau Özdemir ist offenbar schwer retraumatisiert, ihre Kinder sind verzweifelt, sorgen sich um die Gesundheit der Mutter und den Verbleib des Vaters und des ältesten Bruders." Akif Özdemir sitzt unterdessen in Rendsburger Abschiebehaft. Er ist nach Ansicht des behandelnden Anstaltsarztes suizidal und bedarf dringend einer fachärztlichen Behandlung.
Cornelia Ganten-Lange, Hamburger Rechtsanwältin der Familie Özdemir, bewertet den Vorgang mit Blick auf Artikel 1 Grundgesetz "als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar." Darüber hinaus sei mit dem nächtlichen unangekündigten Vollzug für die Betroffenen amtlicherseits die Rechtsschutzmöglichkeit faktisch außer Kraft gesetzt worden. Zu keiner Zeit sei ihr von der Segeberger Ausländerbehörde und dem zuständigen Sachbearbeiter Matthießen mitgeteilt worden, dass eine Abschiebung unmittelbar bevor stünde. Schließlich kritisiert die Anwältin, dass das angerufene Verwaltungsgericht eine "Transportfähigkeit" festgestellt habe. Das Gesetz setze für Abschiebungen eben nicht nur bloße Transportfähigkeit voraus, sondern auch, dass eine Verschlimmerung der vorliegenden Krankheit auszuschließen sei. Den beteiligten Behörden und dem Gericht lagen indes zu jedem Zeitpunkt alle für die Beurteilung der gesundheitlichen Situation der Familie relevanten Atteste und Gutachten vor.
In die gleiche Kerbe schlägt auch der Hausarzt der Familie, der in Norderstedt praktizierende Dr. Ernst Soldan. Übereinstimmend mit Reinhard Fröschlin, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin bei den Segeberger Kliniken und unanhängiger Gutachter für Besime Özdemir, schildert er die Frau als "Patientin mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, die unter dissoziativen Krampfanfällen, Depressionen und Schwindelattacken" leide. Fröschlin hält es für fahrlässig, einen traumatisierten Patienten aus der laufenden Behandlung herauszureißen. Mit Hinweis auf die Erlasslage zum Verwaltungsumgang mit traumatisierten Personen bei Abschiebungen stellt Fröschlin ferner fest, dass es unabhängig von der in der Ausländerakte dokumentierten fachärztlichen Erkenntnissen auch während der Abschiebung "zahlreiche Hinweise auf Gefahr drohender Retraumatisierung" vorgelegen hätten, die jeweils für sich schon Grund genug gewesen wären, die Abschiebung auszusetzen: Polizeigewalt vor dem Hintergrund dokumentierter "man-made-Traumatisierung", der Zusammenbruch von Frau Özdemir, die Selbstschädigungsankündigung des Vaters, offenbar panische Gewaltausbrüche der ins Auto gesperrten Mutter gegen die eigenen Kinder, u.s.w.
Soldan befürchtet, dass nach dem erfolgten abrupten Entzug der Medikamente die Gefahr einer Lebensgefährdung durch Dekompensation auch nach erfolgter Abschiebung noch nicht gebannt sei. Fröschlin bemängelt schließlich entschieden, dass in Kenntnis der gesundheitlichen Gefährdungslage weder die Ausländerverwaltung noch der begleitende Amtsarzt für eine weitergehende fachärztliche Behandlung von Frau Özdemir in der Türkei Sorge getragen hätten. Die pauschale Annahme, eine therapeutische Weiterbehandlung wäre möglich, bezeichnete Fröschlin nach seiner Kenntnis als "sehr verwegen": in der Türkei gäbe es bekanntermaßen keine nennenswerte Traumatherapeutenausbildung, zu den wenigen Therapeuten, die es gäbe, bestünde für mittellose Schüblinge faktisch kein Zugang.
Auch Dr. Hannelore Machnik, Vizepräsidentin der Schleswig-Holsteinischen Ärztekammer, unterstützt die Mediziner nachhaltig in ihrer Kritik. Sie hält den Vollzug der Abschiebung im Falle der amtsbekannt schwer kranken Frau Özdemir für "bedenklich und fahrlässig". Die Gefahr der Re-Traumatisierung sei in diesem Fall für alle Beteiligten offensichtlich gewesen. Die Ärztekammer verurteile das Verwaltungshandeln in diesem Fall entschieden - eine schallende Ohrfeige für den an der Abschiebung beteiligten Amtsarzt. Bejat Moali vom schleswig-holsteinischen Behandlungszentrum für Folteropfer refugio e.V. verurteilt scharf, dass im Fall der Familie Özdemir das Schutzbedürfnis traumatisierter Menschen missachtet wurde. Die Gesundheitssituation der Eltern Özdemir sei beispielhaft für die Einzelfälle, die von refugio betreut und behandelt würden. In der möglichen, teils wahrscheinlichen Retraumatisierung solcher Menschen sei regelmäßig eine Gefahr für Leib und Leben anzunehmen. Eine ausländerrechtliche Reduzierung des Problems auf die Überprüfung der Transportfähigkeit solcher traumatisierten Menschen sei abwegig.
Der Landesbeauftragte für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen in Schleswig-Holstein, Wulf Jöhnk, ist über die brutale, nächtliche Abschiebung betroffen und empört. Er hält die Vollstreckung der Abschiebung im Fall der Familie Özdemir für nicht vertretbar, juristisch für unzulässig. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei insbesondere mit Blick auf das nächtliche überfallartige Verfahren offensichtlich in diesem Fall missachtet worden. Wie schon Anwältin Ganten-Lange betont Jöhnk besonders den Verfassungsrang der Verhältnismäßigkeit. Martin Link vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein zeigt sich irritiert, dass die Abschiebung überhaupt in dieser Form abgelaufen und auch angesichts des dramatischen Verlaufs nicht abgebrochen worden sei. Die geltende Erlasslage räume den Ausländerbehörden ausdrücklich die Möglichkeit ein, im Falle von gewalttraumatisierten Menschen Vollstreckungshindernisse festzustellen, z.B. "wenn nicht nur durch die Abschiebungsmaßnahme selbst, sondern auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Maßnahme, d.h. in einem engen Zeitraum vor, während und nach der Abschiebung, hochrangige Rechtsgüter erheblich gefährdet sind". Link äußert die Befürchtung, dass das Vorgehen im Fall Özdemir zur Blaupause der Abschiebepraxis mit kranken und traumatisierten Menschen im Bundesland werde.
Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein forderte das Innenministerium noch am Mittwoch auf, "Akif Özdemir umgehend aus der Abschiebungshaft zu entlassen und fachärztlich zu behandeln", dem 16jährigen Hadin Özdemir die Möglichkeit des weiteren Schulbesuchs bis zum Abschluss der Hauptschule im kommenden Jahr zu ermöglichen und "Besine Özdemir mit ihren Kindern aus der Türkei zurückzuholen und auf Grundlage der geheilten Familientrennung die angezeigte Therapie durchführen zu lassen". Bislang ist eine Reaktion des Innenministeriums nicht bekannt.
Deportation Class: Fliegen einmal anders ...