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Mittwoch, 23. Juli 2008, 2:00 Uhr
Die Rückkehrer
Einmal Auslagern und zurück
Von Hermannus Pfeiffer. Der Beitrag ist erschienen in AiBplus, Mehr Wissen für Betriebsräte, Ausgabe 04/2008. AiBplus ist Bestandteil des Abo-Pakets der Fachzeitschrift Arbeitsrecht im Betrieb . | Wolfgang Erdmann, Konzernbetriebsratsvorsitzender der Hamburger Jungheinrich AG, ärgert sich noch heute über die Arroganz der Manager. 1994 hatte der Gabelstapler- und Lagertechnikhersteller zum ersten Mal eine Produktionsstätte im Ausland hinzugekauft. Damals triumphierte der Vorstand: "Jetzt haben wir endlich auch einen Billiglohn-Standort". Und der Kauf dieses Werkes war nur der Anfang eines breit angelegten Verlagerungsprozesses. Von da an ließ das Unternehmen nichts unversucht, um die Herstellungskosten zu senken, indem es Teile der Produktion in andere Länder auslagerte. Gabelstapler wurden nun auch in Spanien, Frankreich und England hergestellt, Schweißarbeiten erledigten Arbeitnehmer in Osteuropa.
Wie die Firma Jungheinrich zieht es viele Unternehmen ins Ausland. "Offshoring", so heißt das Auslagern in der Sprache der Manager, gilt bei Unternehmensverantwortlichen als Standartrezept zur Kostensenkung. "Durch Produktionsverlagerungen gehen jährlich etwa 74.000 Arbeitsplätze verloren", schätzt Bruno Braun vom Verband Deutscher Ingenieure. Ein ähnliches Bild zeichnet das Statistische Bundesamt: Beinahe jede fünfte Firma mit hundert und mehr Beschäftigten verlagerte während der Jahre 2001 bis 2006 einen Teil ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten ins Ausland oder plant eine solche Verlagerung bis 2010. Zu diesem Ergebnis kommen die amtlichen Statistiker in einer Studie, für die sie 20.000 Unternehmen in ganz Deutschland befragt haben.
Ziel sind vor allem die neuen EU-Mitgliedsstaaten in Osteuropa. Rund 60 Prozent der deutschen Unternehmen, die auslagerten, gingen nach Tschechien, Rumänien, Ungarn oder Bulgarien. Nach China verlagerten 36 Prozent der Befragten.
Schon vor mehreren Jahrzehnten ist fast die gesamte westdeutsche Textilindustrie ins Ausland abgewandert. In den frühen 90er Jahren folgten viele Autokonzerne, die in Mittel- und Osteuropa ihre Produktionsstätten errichteten. Viele gingen nach Polen: Opel produziert in Gliwice, in Poznan hat Volkswagen eine Fabrik gebaut und bei Wroclaw lässt Mercedes Transporter und Busse montieren. Später zogen auch Klein- und Mittelständler gen Osten, vor allem aus dem Maschinenbau.
Doch der Trend kennt keine Branchengrenzen. Der Softwarekonzern SAP plant, Reisekostenabrechnungen seiner deutschen Angestellten in Prag zu bearbeiten, die Versicherung Zurich Deutschland will Rechnungen in Polen schreiben und ein Markenhersteller für verpackte Wurstwaren lässt Schweinefleisch in Rumänien verarbeiten.
Sogar die Betreiber von Callcentern zieht es nach Osteuropa, wo viele junge Menschen schon in der Schule Deutsch gelernt haben. Diese beantworten zum Beispiel von Polen aus am Telefon die Fragen der Kunden von Versandhändlern oder Telefongesellschaften aus Deutschland. Auch der Computerhersteller Dell und der Billigflieger Sky Europe haben in Polen ihre Servicecenter. Selbst frühere Staatsunternehmen wie Lufthansa und die Deutsche-Post-Tochter DHL lagern Verwaltungs- und Dienstleistungsarbeiten aus. Die Hypo-Vereinsbank will ebenfalls ins Ausland. "Unter dem schönen Begriff Nearshoring sollen rund 250 Stellen nach Polen verlagert werden", sagt Betriebsrat Florian Schwarz in München. Er befürchtet, dies könnte nur der erste Schritt eines größeren Abbaus von Arbeitsplätzen sein: "Nokia lässt grüßen".
Die Zeche für die Billigproduktion im Ausland zahlen die Beschäftigten, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Betroffen sind vor allem an- und ungelernte Arbeitnehmer. Zwei von drei Jobs, die im Zuge von Auslandsengagements abgebaut werden, treffen die Arbeitsplätze von gering Qualifizierten, hat das Statistische Bundesamt herausgefunden. Wie scharf die Auswanderer kalkulieren, zeigt das Beispiel des Wattenscheider Textilkonzerns Steilmann. Meike Lüdemann, Bevollmächtigte der IG Metall in Hamburg-Bergedorf: "Im Jahr 2000 verlagerte Steilmann seine Blusenproduktion nach Rumänien. Rund 13 Mark kostete damals die Herstellung einer Bluse hier in Deutschland, sieben Mark im Ausland." In den Boutiquen kosteten solche Kleidungsstücke dann 100 Mark aufwärts, heute lägen die Gewinnspannen oft noch höher.
Hohe Profite wären in Deutschland auch heute noch möglich, aber sie sind vielen Unternehmern nicht hoch genug. Sie wollen die Gewinne weiter nach oben treiben. Dies zeigen die Schließungen von profitablen Werken wie AEG in Nürnberg, Continental in Hannover oder zuletzt Nokia. Unmittelbar nach der Werksschließung in Bochum gab das Unternehmen für das vorangegangene Jahr eine Gewinnsteigerung von 67 Prozent bekannt. Dennoch wurde die Handy-Produktion aus dem Ruhrgebiet nach Rumänien verlagert.
Laut Umfragen des Statistischen Bundesamtes begründen die Unternehmen ihre Abwanderung vor allem mit niedrigeren Löhnen im Zielland (82 Prozent), geringeren sonstigen Kosten (74 Prozent) und mehr als die Hälfte mit steuerlichen Vorteilen und staatlichen Subventionen. Doch das Thema Standortverlagerung nutzen auch solche Unternehmen für ihre Interessen aus, die tatsächlich nicht einen einzigen Arbeitsplatz ins Ausland verschieben. Die Drohung mit einer Verlagerung von Unternehmensteilen dient häufig als Druckmittel gegenüber den Beschäftigten.
"Ein Schreckgespenst", kritisiert Frank Strickstock, Betriebsrat beim Rowohlt Verlag im schleswig-holsteinischen Reinbek, "das Arbeitgeber jahrelang in den Medien aufgebaut haben." Damit wollten sie vor allem von Betriebsräten und Gewerkschaften Zugeständnisse erpressen. Jedenfalls im Verlagsgeschäft blieb es bei Drohungen, sagt Betriebsrat Strickstrock. Wenn Verlage tatsächlich im Ausland tätig wurden, verlagerten sie keine Druckereien aus Leipzig oder Verwaltungen aus Stuttgart hinter die Oder, sondern kauften in Osteuropa ansässige Verlage ein, um dort den Markt zu erobern. Eine solche Auslandsexpansion, ohne dass Betriebe in Deutschland leidern, ist in vielen Branchen üblich und sichert im Regelfall auch daheim Arbeitsplätze. Gewerkschafter weisen darauf hin, dass der Druck zur Verlagerung ins Ausland längst nicht so groß ist, wie es in der Öffentlichkeit vielfach dargestellt wird. "Tatsächlich ist an den Drohungen der Arbeitgeberseite weit weniger Substanz, als man denkt. ", sagt Nikolaus Schmidt aus der Abteilung Industriepolitik der IG Metall.
Immer mehr Unternehmen kehren zudem nach Deutschland zurück. Auf jede sechste Verlagerung folgt innerhalb weniger Jahre eine Rückverlagerung, hat Steffen Kinkel festgestellt. Der Sozialforscher vom Fraunhofer-Institut in Karlsruhe berät Unternehmen bei Standortentscheidungen. Zu den Rückkehrern gehört auch die Firma Jungheinrich: Die Gabelstaplerfabrik in der Nähe von London wurde ebenso geschlossen, wie Werke in Spanien und Frankreich. Die Schweißarbeiten wurden aus Osteuropa zurück ins schleswig-holsteinishce Norderstedt und ins bayrische Moosburg geholt. Kinkel kann weitere prominente Rückkehrer aufzählen, wie den Batteriehersteller Varta, der aus Singapur zürückkehrte, Lauffenmühle Betriebsbekleidung aus Tschechien oder den Mikrofon- und Kopfhöhrer-Hersteller Sennheiser aus China. Allein in der Metall- und der Chemieindustrie haben seit der Jahrtausendwende mehr als 3.500 Firmen die Rückreise angetreten.
Das Scheitern von Unternehmen ist oftmals eine Folge falscher Vorstellungen von den Produktionsmöglichkeiten im Ausland. Geny Piotti, Wirtschaftssoziologin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, spricht von einem Herdenverhalten der Manager. Angetrieben von der Berichterstattung in Massenmedien und Businessmagazinen seien viele einem Modetrend gefolgt, ohne Vor- und Nachteile für ihr Unternehmen objektiv abzuwägen. Kinkel kritisiert, dass Verlagerungen naiv geplant werden und sich Unternehmer von kurzfristigen Kostenversprechungen blenden lassen.
Es bestehen zahlreiche Risiken, die das ?Offshoring? in der Praxis zu einem teuren Verlustgeschäft machen können. So können schon holprige Straßen oder eine lückenhafte Verkehrsanbindung dazu führen, dass ein größeres Warenlager benötigt wird, um die Produktion zuverlässig am Laufen zu halten. Teurer als erwartet können auch die Betreuungskosten ausfallen, wenn etwa aus der Unternehmenszentrale in Deutschland ständig Spezialisten zur neuen Tochtergesellschaft nach China fliegen müssen.
Neben überraschenden Zusatzkosten klagen Rückkehrer über die geringe Termintreue und über mangelnde Flexibilität. "Die Euphorie des Managements ist schnell verflogen", hat Jungheinrich-Betriebsrat Wolfgang Erdmann festgestellt, "weil man gemerkt hat, dass hinter dem niedrigen Lohn auch eine niedrige Produktivität und schlechte Qualität stecken".
Das erleben viele Unternehmen. Die Blechle, berichtet ein Mittelständler, kamen zurück "als wären sie angeknabbert worden", und eine Keksfabrik konnte einfache Hygienestandarts nicht einhalten. Außerdem beklagen viele der von Kinkel untersuchten Unternehmen einen Mangel an Fachkräften. Firmenloyalität gibt es vor allem in China, aber auch in vielen anderen kapitalistischen Entwicklungsländern, kaum. Wenn die Konkurrenz mehr zahlt, kann die eigene Werkhalle am nächsten Morgen leer stehen.
Die schwer absehbaren wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Faktoren bescheren jedem Unternehmen, das auswandert, ein Abenteuer, dass sich nicht vorab in Euro und Cent kalkulieren lässt. Beispielsweise entwickeln sich die Löhne oder die Kosten für Material und Energie in vielen Schwellenländern dynamisch. Arbeitskräfte werden in Boomregionen knapp. Die Löhne in Polen stiegen seit dem Jahr 2000 um über 40 Prozent und in einigen Ballungsräumen Asiens und Mitteleuropas werden selbst ungelernte Arbeiter mit hohen Zuschlägen abgeworben. Derweil sanken in Deutschland die Lohnstückkosten infolge moderater Lohnentwicklung und steigender Produktivität um etwa zehn Prozent.
Das sind Argumente für Betriebsräte, die sich gegen eine geplante Standortverlagerung wehren müssen. Oft hat ihr Widerstand erstaunlichen Erfolg: "Nicht jede diskutierte Verlagerung wird auch tatsächlich durchgeführt", hat Astrid Ziegler vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) festgestellt. In einem Fünftel der Betriebe wurde eine zunächst angekündigte Verlagerung wieder zurückgenommen. Die Erfolge kamen nicht selten durch Druck der Öffentlichkeit, durch Intervention von Gewerkschaften oder eine kluge Politik des Betriebsrats zustande, wie im Fall Bosch oder bei Jungheinrich.
Bei dem Hamburger Gabelstapler- und Lagertechnikhersteller haben Betriebsrat und IG Metall detaillierte Gegenkonzepte zur weiteren Auslagerung entworfen. Ziel dieser Konzepte war es, möglichst viele anspruchsvolle Arbeiten in Deutschland zu halten oder zurückzuholen. "Mit vielen unserer Vorschläge haben wir uns durchsetzen können", freut sich Konzernbetriebsrat Erdmann. Bei Jungheinrich in Deutschland arbeiten heute wieder so viele Menschen, wie zu Beginn der Verlagerungseuphorie.
Warnstreikaktion bei Jungheinrich Norderstedt im April 2002