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Mittwoch, 3. Juni 2009, 2:00 Uhr
"Bürger können die marktradikale Mehrheit abwählen"
Ulrike Rodust zu den Europawahlen
Infoarchiv Norderstedt | Im Vorfeld der Europawahl am 7. Juni stellten wir CDU, SPD, FDP, LINKEN und GRÜNEN im Kreis Segeberg jeweils vier europapolitische Fragen. Davon waren jeweils zwei Fragen sehr kritisch gehalten, zwei weitere ermöglichten den PolitikerInnen, eigene Schwerpunkte zu setzen. Wir sicherten zu, die Texte weder zu kürzen, noch in irgendeiner Weise zu kommentieren. Für die SPD antwortete die Kandidatin zur Europawahl, Ulrike Rodust:
Info Archiv: Ihr Parteikollege und Industriekommissar Günter Verheugen hat 2005 einerseits garantiert, dass niemand in der Europäischen Kommission eine Dienstleistungsrichtlinie wolle, die Sozialdumping ermögliche ... eine Äußerung, die heute ein wenig an Walter Ulbricht erinnert. Außerdem, so Verheugen damals, stelle die Entsenderichtlinie sicher, dass die Arbeitnehmer bei grenzüberschreitender Arbeit vor Lohndumping sicher seien. Nun haben vier aufeinanderfolgende Urteile des Europäischen Gerichtshofs 2007, 2008 und 2009 genau das Gegenteil festgestellt: Demnach sichert die Richtlinie nur ein "Minimum an Schutz", verhindert sogar die Gleichstellung ausländischer Arbeiter. War es nun Naivität, die Herrn Verheugen zu seiner Aussage getrieben hat, wollte er die Menschen für dumm verkaufen oder ist man als EU-Kommissar so weit von der Lebensrealität entfernt, dass man die Wirkung seiner Entscheidungen gar nicht mehr bemessen kann?
Ulrike Rodust: Ich teile Ihre Sorge, dass die Europäische Union mehr und mehr in eine soziale Schieflage geraten ist und die jüngste Rechtsprechung des EuGH ist sicher unerfreulich. Hatte der Gerichtshof in früheren Jahren durch seine Auslegung des Binnenmarktrechts sozialpolitische Fortschritte für Arbeitnehmer und Verbraucher gebracht, wurden in den Fällen Laval, Viking und Rüffert Urteile gefällt, die das Wettbewerbsrecht über nationales Arbeitsrecht und die Rechte der Gewerkschaften stellen. Die arbeitnehmerunfreundlichen Urteile des EuGH machen aber besonders deutlich, wie wichtig es ist, dass sich Deutschland, insbesondere mit Blick auf den freien Dienstleistungsverkehr, europafit macht. Kein Mitgliedstaat kann es sich erlauben, europäische Instrumente zum Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ungenutzt zu lassen ? auch Deutschland nicht. Seit 1996 gibt es die von Ihnen erwähnte EU-Entsenderichtlinie, die es den Mitgliedstaaten allerdings tatsächlich ermöglicht, im Inland allgemeingültige Lohn- und Arbeitsbedingungen festzuschreiben, um einheimische wie entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndumping zu schützen. Das Europäische Parlament hat 2004 zudem Vergaberichtlinien für das öffentliche Auftragswesen beschlossen, wonach die Einhaltung der ortsüblichen Tarife zur Voraussetzung für die Auftragsvergabe erklärt werden können. Bei allen Beschlüssen, die den freien Dienstleistungsverkehr betreffen, treten die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament dafür ein, einen europaweiten Wettbewerb um die niedrigsten Lohn- und Sozialstandards zu unterbinden. Aber dazu sind, wie das EuGH-Urteil deutlich macht, auch klare und allgemein verbindliche Regeln auf nationaler Ebene erforderlich. Deutschland hat hier Nachholbedarf. Während eine Mehrzahl von EU-Staaten die Entsenderichtlinie umfassend umgesetzt hat, wurde sie in Deutschland lange nur im Baugewerbe angewandt. Jetzt ist es an der CDU/CSU endlich in der europäischen Realität anzukommen und ihren Widerstand gegen allgemein verbindliche Mindestlöhne aufzugeben und der Aufnahme aller Branchen in den Bereich des Entsendegesetzes zuzustimmen. Deutschland braucht ein europataugliches Arbeits- und Sozialrecht, damit unabhängig von der nationalen Herkunft der in Deutschland tätigen Unternehmen gleiche Sozialstandards für Arbeitnehmer gelten. Was in anderen EU-Mitgliedstaaten möglich ist, muss auch in Deutschland machbar sein.
Info Archiv: Die SPD hat in ihrer nationalen Politik seit 1998 stark auf Deregulierung und Sozialabbau gesetzt: Die massive Ausweitung der Befristungsmöglichkeiten von Arbeitsverträgen, die Aufweichung des Kündigungsschutzes, die Hartz-Gesetze mit viel "Fordern" und wenig "Fördern" sind nur einige Beispiele. Auf europäischer Ebene fiel zuletzt auf, dass sich ausgerechnet Sozialpolitiker Olaf Scholz als deutscher Arbeitsminister im Europäischen Rat vehement für eine Öffnungsklausel in der umstrittenen Arbeitszeitrichtlinie eingesetzt hat und damit für durchschnittliche 65 bis hin zu zeitweisen 78 Stunden (!) Wochenarbeitszeit kämpfte. Wer eigentlich soll der SPD vertrauen, wenn sie jetzt im Europawahlkampf - gemeinsam mit den Gewerkschaften - für ein "soziales Europa" eintritt?
Ulrike Rodust: Die Position meiner Fraktion zur Arbeitszeitrichtlinie ist eindeutig: SCHLUSS MIT ÜBERLANGEN ARBEITSZEITEN! Mit der Neuregelung der Arbeitszeit erzielte die Sozialdemokratische Fraktion in der laufenden Wahlperiode einen ihrer größten Erfolge. Bei der entscheidenden Abstimmung über die Arbeitszeit-Richtlinie in zweiter Lesung stimmten die europäischen Gesetzgeber mit großer Mehrheit dafür, überlange Arbeitszeiten für Millionen von Arbeitnehmern in der ganzen EU zu untersagen, womit ein Schlupfloch geschlossen wurde, das es einigen Regierungen ermöglichte, die Vorschriften durch die "Opt-out"-Regelung zu umgehen. Bei den Verhandlungen unter Federführung des sozialdemokratischen Berichterstatters Alejandro CERCAS (SPE, Spanien) gelang es, die rechtsgerichteten Fraktionen EVP-ED und ALDE zu spalten und bei den Abstimmungen im Parlament einen eindrucksvollen Sieg zu erringen. Bei jedem Änderungsantrag brachten die Sozialdemokraten eine Mehrheit zustande, die deutlich über der "qualifizierten Mehrheit" (393) lag, wie sie zur Aushebelung der Position des Ministerrats notwendig war, wonach Millionen von Arbeitnehmern weiterhin der Schutz verwehrt geblieben wäre. Stattdessen stimmten die europäischen Gesetzgeber für eine durchschnittliche Arbeitswoche von 48 Stunden ohne "Opt-out"-Regelung für einzelne Mitgliedstaaten. Am Tag vor der entscheidenden Abstimmung demonstrierten etwa 15.000 Arbeitnehmer aus ganz Europa zusammen mit führenden sozialdemokratischen Europaabgeordneten auf den Straßen von Straßburg und forderten Arbeitszeiten, die weder die Gesundheit noch die Sicherheit beeinträchtigen. Das Parlament änderte den Entwurf der Arbeitszeit-Richtlinie ab und sorgte für:
- den Schutz aller Arbeitnehmer vor überlangen Arbeitszeiten, die ihre Gesundheit und Sicherheit gefährden
- die Anerkennung von Bereitschaftsdienst am Arbeitsplatz als Arbeitszeit
- neue Informations- und Konsultationsrechte bei der Gestaltung der Arbeitszeit, wobei auch Tarifverhandlungen eine Rolle spielen
- neue Rechte für Arbeitnehmer, damit sie ihre Arbeitszeit mit ihren familiären und sonstigen Pflichten in Einklang bringen können.
Unsere politischen Ziele jenseits aller Legenden: Das historische Votum des Europäischen Parlaments entspricht dem Standpunkt der Sozialdemokratischen Fraktion, wonach Obergrenzen für die Arbeitszeit eine Frage der Gesundheit und Sicherheit sind, was auch vom Europäischen Gerichtshof anerkannt wurde. Folglich müssen sie von allen europäischen Regierungen eingehalten werden, um die Arbeitnehmer vor Erkrankungen und Unfällen zu schützen, die nachweislich mit anhaltend langen Arbeitszeiten im Zusammenhang stehen, und die europäische Wirtschaft vor unlauterem Wettbewerb im Binnenmarkt zu schützen. Die neue Richtlinie zielt auch auf die Steigerung der europäischen Wettbewerbskraft, denn alle Indizien sprechen dafür, dass Arbeitnehmer mehr leisten, wenn ausreichende Ruhezeiten vorgesehen sind. Der von Alejandro CERCAS vermittelte Standpunkt des Parlaments belässt ausreichend Spielraum, um Stoßzeiten bei der Gestaltung der Arbeitszeit gebührend zu berücksichtigen. Beispielsweise nimmt die neue Regelung auf Arbeitnehmer Rücksicht, die mehrere Wochen oder Monate lang mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten müssen, denn die Referenzperiode für die durchschnittliche Arbeitszeit beträgt jetzt 12 Monate. Aber: Der Kampf ist noch nicht vorüber! Nachdem sich das Parlament im Dezember 2008 auf ganzer Linie gegen die Position des Rates durchgesetzt hatte, wird damit gerechnet, dass Ende Januar 2009 Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und den EU-Ministern aufgenommen werden, um zu einer Einigung der beiden Institutionen zu gelangen und die gesetzliche Regelung über die durchschnittliche Arbeitswoche von 48 Stunden unter Dach und Fach zu bringen. Nach schwierigen und langwierigen Verhandlungen zwischen Parlament und Rat kam der Vermittlungsausschuss zur Arbeitszeitrichtlinie am Abend des Montag, 27. April 2009, zu seiner dritten Sitzung zusammen. Nach viereinhalb Stunden Verhandlung lehnte die Delegation des Parlaments das letzte Angebot des Rats mit 0 Ja-Stimmen, 15 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen ab. Es sei darauf hingewiesen, dass das Parlament während der Dauer der Verhandlungen mehrere Kompromisstexte vorgelegt hat, die alle vom Rat als nicht akzeptabel zurückgewiesen wurden. Darüber hinaus ist dies das erste Mal seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam, dass im Vermittlungsverfahren zwischen Europaparlament und Ministerrat keine Einigung gefunden werden konnte.
Info Archiv: Bitte vervollständigen Sie diesen Satz (möglichst kurz): Die Menschen in Segeberg und Hamburg sollen am 7. Juni SPD wählen, weil ...
Ulrike Rodust: ... die Europawahl eine Richtungsentscheidung ist: Die Bürgerinnen und Bürger können die marktradikale Mehrheit der Konservativen und Liberalen abwählen und ein soziales Europa der Menschen wählen.
Info Archiv: Was wollen Sie in den nächsten fünf Jahren im Europaparlament bewegen? Nennen Sie bitte ihre wichtigsten drei Themen und Ihre diesbezüglichen Ziele.
Ulrike Rodust: Ich will mich einsetzen für ein Europa, dass sich umfassend für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Entwicklung einsetzt; für ein Europa der Beschäftigung und guten Arbeit, in dem wir zusammen mit den Gewerkschaften für faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen kämpfen; Und als Vertreterin Schleswig-Holsteinischer Interessen zum Beispiel auch: Für ein Europa mit einer zukunftsgerichteten Agrar- und Strukturpolitik, dass die ländlichen Räume sinnvoll stärkt.
Wir bedanken uns für die Antworten.
Ulrike Rodust