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Dienstag, 13. November 2012, 22:04 Uhr
Arbeiten bis zum Abschlag
Schwarz-Rot-Grün verteidigt Rente mit 67
Olaf Harning | Seit Monaten wird in Deutschland wieder heftig über die Rente gestritten - nicht zu Unrecht, wenn man bedenkt, welche Bedeutung dieser Zweig der Deutschen Sozialversicherung hat. Während ein Großteil der Politik auf den demografischen Wandel mit Manipulationen an der Rentenformel und höherem Renteneintrittsalter reagiert, fordern Gewerkschaften, LINKE und Sozialverbände höhere Beiträge und die Heranziehung aller Einkommensarten.
"Rente mit 67 schafft keine Arbeitsplätze, sondern alle Arbeitenden", Transparent der IG BAU-Jugend Weser-Ems (Foto: Lüers)
Damit, so rechnen der Deutsche Gewerkschafts Bund (DGB) und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) vor, könnte nicht nur das Renteneintrittsalter bei maximal 65 Jahren belassen-, sondern auch die Höhe der Renten einigermaßen stabil gehalten werden. Konkret hat die IG BAU bereits vor etwa zehn Jahren vorgeschlagen, den versicherten Personenkreis zu erweitern (etwa um die rund 1,8 Millionen BeamtInnen), die Beitragsbemessungsgrenze abzuschaffen und auch Erträge aus Vermögen oder Mieteinnahmen zur Finanzierung der Rentenversicherung heranzuziehen. In einem neueren Konzept fordert die Gewerkschaft außerdem, die Rentenbeiträge schrittweise auf mindestens 22% anzuheben, um den demografischen Effekt aufzufangen. Verdächtig ahnliche Vorschläge machte im September 2012 DIE LINKE, die außerdem das Rentenniveau auf 53% anheben will.
Doch der reale "Rentenzug" fährt in eine andere Richtung - in die entgegengesetzte sozusagen. So legte die Politik in den vergangenen Jahren gleich mehrfach Hand an die Rentenformel - mit dem Ergebnis, dass der sogenannte "Eckrentner" im Jahre 2020 nach 45 Jahren Beitragszahlung auf nur noch etwa 46% seines durchschnittlichen Arbeitsentgeltes kommen wird. Ging er 1998 in Rente, waren dies noch 53,6%, im Jahre 1977 gar 59,8%. Außerdem bestätigte eine überwältigende Mehrheit des Bundestages im Mai 2010 die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von bisher 65 auf 67 Jahre bis 2029 - in vollem Bewusstsein dessen, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung nur wenig mehr als 10% der ArbeitnehmerInnen zwischen 63 und 65 eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitstelle innehatten. Während also den heute Beschäftigten große Teile ihrer Rentenanwartschaften genommen wurden, um den demografischen Wandel abzufedern, beschloss die Bundesregierung vor wenigen Wochen kurzerhand die Senkung des Rentenbeitrags von 19,6 auf 18,9%. Wie das zusammenpasst? Gar nicht. Oder vielleicht doch, weil die Rente mit 67 und die Änderung der Rentenformel ausschließlich zu Lasten der ArbeitnehmerInnen gehen, von einem niedrigen Rentenbeitrag hingegen vor allem Arbeitgeber spürbar profitieren?
Katja Rathje-Hoffmann (CDU), Segeberger Landtagsabgeordnete und sozialpolitische Sprecherin ihrer Fraktion, verneint eine "Umverteilung von unten nach oben" und verteidigt das Vorgehen der Koalition als "starkes Signal, dass es die CDU-geführte Bundesregierung ernst meint mit dem Versprechen, Lohnnebenkosten zu senken und damit den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken." Vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen würden so "Spielräume geschaffen, um wichtige Investitionen zu tätigen." Die von den Gewerkschaften geforderte Alternative höherer Beitragssätze lehnt sie deshalb vehement ab: Dadurch würde Arbeit in Deutschland lediglich teurer werden, Arbeitsplatzabbau sei die wahrscheinliche Folge. Die Rente mit 67 ist für Rathje-Hoffmann unverzichtbar, weil die durchschnittliche Rentenbezugsdauer seit 1960 um satte 70% gestiegen sei, gleichzeitig aber das Verhältnis in die Sozialsysteme einzahlender Arbeitnehmer zu Rentnern und Pensionären sinke.
Kommentar
In seiner ausführlichen Stellungenahme, die uns Franz Thönnes zum Thema "Rente mit 67" zukommen ließ, betont der ehemalige Gewerkschaftssekretär unter anderem, dass Beschäftigte nach 45 Beitragsjahren auch zukünftig mit 65 Jahren in die ungekürzte Altersrente gehen können. Das Problem: Erstens erreichen die meisten Arbeitnehmer keine 45 Beitragsjahre, zweitens nützt die Regelung vielen hunderttausend Beschäftigten nur wenig, die mit 15 oder 16 in die Lehre gingen und damit nach 45 Jahren erst 60 sind.
Sicher, die - unbestritten dramatische - Entwicklung der Demografie-Kurven drängt zum Handeln und sicher: Die Rentenkassen können ein simples "weiter so" nicht mehr schultern. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Heraufsetzung des Rentenalters die einzige Handlungsoption ist - schon gar nicht die gerechteste. Warum zahlen Großverdiener wegen der Beitragsbemessungsgrenze entweder unterdurchschnittlich wenig oder bei vielen Einkommensarten überhaupt nicht in die Rentenkasse ein? Warum tun das auch die vielen Beamten nicht, deren Renten bislang steuerfinanziert gezahlt werden? Warum senkt die Regierung den Beitrag zur Rentenversicherung, wenn schon jetzt riesige Lücken der Rentenkasse in Sichtweite sind?
Katja Rathje-Hoffmann sieht bei einer allzu arbeitnehmerfreundlichen Regelung den "Standort Deutschland" in Gefahr, will die Nebenkosten senken. Die "Rente mit 67" hingegen gefährdet etwas ganz anderes - den sozialen Frieden. Wer das Rentenalter heraufsetzt, während schon der Status Quo von einem Großteil der Beschäftigten nicht erreicht wird, agiert realitätsfremd und hat am Ende nur Eines im Sinn: Sparen auf dem Rücken der Arbeitnehmer.
Olaf Harning
Ganz ähnlich äußert sich der Segeberger Bundestagsabgeordnete Franz Thönnes (SPD) gegenüber dem Infoarchiv. Thönnes, der als parlamentarischer Staatssekretär a.D. unter den Arbeitsministern Franz Müntefering und Olaf Scholz (beide SPD) als einer der Architekten der Rente mit 67 gilt, rechtfertigt die Anhebung des Renteneintrittsalters als "verantwortungsvolle Rentenpolitik", die "über die nächsten fünf Jahre deutlich hinaus" geblickt habe. Thönnes über seine Beweggründe: "Auf die Entwicklung einer zurückgehenden Zahl von Beschäftigten, eines späteren Beginns des Erwerbslebens bei Jugendlichen, eines früheren Ausscheidens aus dem Arbeitsleben und einer längeren Lebenserwartung sowie längere Rentenzahlungen haben wir während unserer Regierungszeit reagiert." Allerdings seien im Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz sehr bewusst auch Punkte zum Schutz vor einer faktischen Rentenkürzung aufgenommen worden. So habe man mit der "Initiative 50plus" Einstellung und Beschäftigung älterer Arbeitnehmer gefördert und festgelegt, dass die Bundesregierung alle vier Jahre über die Lage älterer Beschäftigter am Arbeitsmarkt berichten muss. Auf Grundlage des ersten Berichts 2010 habe sich die SPD dann dafür ausgesprochen, den für 2012 geplanten Beginn der Anhebung des Renteneintrittsalters auszusetzen, bzw. ihn von der Installation weiterer sozialer Sicherungsmechanismen abhängig zu machen. CDU und FDP waren bekanntlich anderer Meinung und winkten den Start der Rente mit 67 durch.
Damit war gesetzlich verankert, dass die 1947 Geborenen als erster betroffener Jahrgang erst mit 65 Jahren und einem Monat abzugsfrei in den Ruhestand gehen können - die ersten "Spätrentner" lassen also in diesen Tagen den berühmten "Hammer fallen" - oder sollten es zumindest tun. Mit der Realität nämlich haben weder das bisherige, noch das neue Renteneintrittsalter sonderlich viel zu tun. So tritt der "Versorgungsfall" für Bauarbeiter durchschnittlich im 60. Lebensjahr ein - seit Jahren annähernd konstant und damit weit ab von den Vorstellungen des Gesetzgebers. Zudem erreichten im Jahre 2008 in den Bauberufen gerade einmal 18,3% das abzugsfreie Rentenalter. Für alle anderen, die entweder vorzeitig arbeitsunfähig werden oder schlicht im Alter langzeitarbeitslos sind, ist die Rente mit 67 nichts weiter, als eine Rentenkürzung. Wer nämlich vorzeitig geht, muss mit Abschlägen von 0,3% seiner Rente rechnen - pro Monat, der bis zum Erreichen des regulären Renteneintritts fehlt. Ein Jahr früher bedeutet also satte 3,6% Abzug ... ein Leben lang. Ganz davon abgesehen, dass die Demografie um schwer arbeitende Menschen im Niedriglohnsektor einen großen Bogen macht: Sie starben im Jahre 2010 durchschnittlich mit 75,5 Jahren - und damit sogar zwei Jahre früher, als noch 2001.
Vielleicht kein Wunder, dass sich nach verschiedenen Umfragen bis zu 75% der Menschen in Deutschland gegen die Rente mit 67 und sogar bis zu 80% für eine Anhebung der Rentenbeiträge aussprechen, übrigens mehrheitlich auch die WählerInnen der Regierungskoalition. Nur in der grünen Wählerschaft gibt es demnach ein Patt in der Frage des Renteneintritts - hier überwiegen offenbar jüngere, gut verdienende Beschäftigte, die steigende Belastungen fürchten. Die Partei selbst fordert laut Dr. Marret Bohn, sozial- und gesundheitspolitische Sprecherin der grünen Kieler Landtagsfraktion, eine Garantierente, die nach 30 Jahren Beitragszahlung mindestens 850 Euro Monatsrente vorsieht. Das trägt aber nur den unterbrochenen Erwerbsbiografien und der Rentenhöhe Rechnung - am Renteneintrittsalter, also der Rente mit 67, rütteln auch Bohn und ihre Partei nicht: "Wir Grüne wollen eine Garantierente und langfristig eine Bürgerversicherung. Wenn die Rente mit 67 funktionieren soll, dann müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Ältere länger arbeiten können und dabei gesund bleiben."
Genau dafür aber gibt es bislang nicht das geringste Anzeichen: Glaubt man etwa dem 2009 veröffentlichten, dritten Monitoring-Bericht des "Netzwerks für eine gerechte Rente", entziehen sich die Betriebe auf breiter Front ihrer Verantwortung, die Bedingungen für die Arbeit älterer Beschäftigter zu schaffen oder zu verbessern. So hat sich der Anteil der Unternehmen, die spezielle Maßnahmen für Beschäftigte über 50 initiieren, seit 2002 sogar auf etwa 17% gesenkt. Und der Anteil der sozialversichert Beschäftigten über 60 Jahre ist zwar seit 2007 von 18,2 auf heute etwa 28 Prozent gestiegen, parallel dazu schossen aber auch prekäre, unsichere Jobs aus dem Boden, so dass die meisten ArbeitnehmerInnen in diesem Alter nach wie vor arbeitslos sind oder zu äußerst schlechten Bedingungen arbeiten. Für den Sozialverband VDK Anlass genug, zu Jahresbeginn ein vernichtendes Fazit zu ziehen: "Derzeit bieten weder der Arbeitsmarkt, noch die Personalpolitik der Unternehmen Anhaltspunkte dafür, dass ein Arbeiten bis zur Regelaltersgrenze zur Normalität wird." Das wissen insbesondere hunderttausende Arbeitslose diesen Alters, die durch die Rente mit 67 nichts weiter als noch länger arbeitslos sind.
Keine Stellungnahme erhielten wir von der FDP, deren Bundestagsabgeordneter Jürgen Koppelin sich auf mehrfache Anfragen nicht zurückmeldete. Alle im Artikel dargestellten Grafiken wurden uns freundlicherweise von der Hans-Böckler-Stiftung zur Verfügung gestellt.