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Samstag, 5. März 2005, 1:00 Uhr

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"Reformen" versagen, Arbeitslosigkeit explodiert

Von Olaf Harning | Thomas Kenntemich, Leiter der Agentur für Arbeit Elmshorn, hat zur Zeit keinen angenehmen Job. Monat für Monat muss er die miserablen Arbeitsmarkt-Statistiken seines Arbeitgebers in der Region verbreiten und ihnen zumindest irgendetwas Hoffnungsvolles abgewinnen. Für gewöhnlich heisst das für den Kreis Segeberg, einen der kleineren Bezirke auszuwählen, der zufällig positive Zahlen gegenüber dem Vormonat verzeichnet. Diesmal musste dafür allerdings auf das ominöse Gebiet "Mittelholstein" zurückgreifen, denn hier sollen die Arbeitslosenzahlen doch tatsächlich um zwei Prozentpunkte niedriger liegen, als im Januar ... während sie gegenüber dem Vorjahresmonat natürlich ebenfalls deutlich angestiegen sind.
Alleine im Einzugsgebiet der Agentur Norderstedt waren im Februar über 4.600 Menschen (8,1%) arbeitslos gemeldet. Das sind noch einmal gut 100 mehr als im Januar und sogar 400 mehr als im Februar 2004. Auch in der Stadt Norderstedt selber stieg die Zahl der Erwerbslosen um 65 auf aktuell 3.214 an, darunter über 1.000 Langzeitarbeitslose. Im Bereich Kaltenkirchen gab es im Februar 4.675 Arbeitslose (8,7%), im Großraum Bad Segeberg 2.706 (9,5%), im gesamten Kreis blieb die Zahl nur um ganze 23 Menschen unter der symbolhaften Zahl von 12.000 (8,9%).
Während sowohl die Bundesagentur, als auch die örtlichen Agenturen einmal mehr von eher "technischen" Gründen für den Anstieg sprechen, wird in der Realität immer deutlicher, dass die als "Reformen" verharmlosten Kürzungen und Streichungen der Hartz-Gesetze wie der "AGENDA 2010" keinerlei positive Wirkung am Arbeitsmarkt erzeugen. Durch die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden zwar etliche SozialhilfeempfängerInnen nun neuerdings als "arbeitslos", bzw. "arbeitssuchend" gezählt und vielleicht irgendwann einmal besser betreut. Zugleich aber fallen nach der faktischen Abschaffung der Arbeitslosenhilfe Hunderttausende vollständig aus den Sozialsystemen heraus und werden künftig nicht mehr erfasst.
Der Bundesregierung - immer wieder angetrieben von ihrem neoliberalen "Arbeitsminister" Wolfgang Clement - ist das freilich nicht genug: Zum wiederholten Male zieht man derzeit eine Steuersenkung für Unternehmen ernsthaft in Erwägung. Dabei geht es großen Teilen der deutschen Wirtschaft so gut wie noch nie – auf Kosten der Beschäftigten. Erst im November berichtete das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" von fast 50 Milliarden Euro (das entspricht rund 140.000 durchschnittlichen Brutto-Jahresgehältern), die die großen deutschen Unternehmen als "zusätzliche Gewinne" beinahe verzweifelt unterzubringen versuchten - möglichst an der Steuer vorbei, versteht sich. "Fördern und Fordern", das Leitmotto der sozialdemokratischen "Reformen" am Arbeitsmarkt, erhält so eine völlig neue Bedeutung: Die Unternehmen werden gefördert - ihre Arbeitnehmer erst entlassen, dann gefordert.
Vor allem die mehr als 3.600 Langzeitarbeitslosen im Kreis Segeberg kennen diese Situation aus eigener Anschauung. Während die Bundesagentur ihre bittere Arbeitslosenstatistik für Februar an die Öffentlichkeit brachte, konnten sie in verschiedenen Tageszeitungen lesen, dass mehr als die Hälfte aller Unternehmen grundsätzlich keine Arbeitnehmer über 50 Jahre einstellt. Genau aus dieser Gruppe stammen aber viele der Betroffenen und angeblich zu ihrem Wohl hatte VW-Manager Peter Hartz zahlreiche Arbeitsrechts-Verschärfungen durchgesetzt. So sollten vor allem die weitgehende Freigabe von Befristungen sowie die ausdrückliche Förderung der Scheinselbstständigkeit "Flexibilität" für die Betriebe und damit neue Arbeitsplätze für ältere ArbeitnehmerInnen bescheren. Hanebüchender Unsinn - den die Betroffenen aber gleichwohl ausbaden müssen: 4.628 Betroffene alleine im Raum Norderstedt, Tendenz steigend.

Übrigens: Hilfe und Beratung erhalten Betroffene u.a. bei ihrer DGB-Gewerkschaft, bei Sozialverbänden und RechtsanwältInnen. Generell sollte man sich erkundigen und gegebenenfalls zur Wehr setzen, bei Kündigung ebenso wie in Fällen von Leistungssperren der Agenturen für Arbeit. Die werden nämlich immer häufiger ohne jede Grundlage verhängt. In Einzelfällen, so JuristInnen, kann hierbei sogar Anzeige (etwa wegen Nötigung) gegen SachbearbeiterInnen der Agenturen erstattet werden, wenn die Sperre mit der Aufforderung zur Annahme einer Arbeitsstelle verhängt wurde, zu deren Annahme die Betroffenen gar nicht verpflichtet waren. Dies ist beispielsweise bei Wucherlöhnen oder Löhnen unterhalb bestehender Mindestlöhne, allgemeinverbindlicher Tarifverträge u.s.w. oft der Fall.

Hier einige Adressen und Telefonnummern aus der Region:

Rechtsanwältin
Britta Möhlenbrock
Ulzburger Straße 841
22844 Norderstedt
040 - 589 555 58

Arbeitslosen-Telefonhilfe Hamburg
0800 111 0 444 (kostenlos im 040-Netz)
040 / 22 75 74 73 (für andere Bundesländer)
Beratungszentrum Humboldt-Campus
Humboldtstraße 58
22083 Hamburg

ver.di Norderstedt
Europaallee 21,
22850 Norderstedt
040/5231277

Sozialberatung des
Diakonischen Werkes Bad Segeberg
Kirchstraße 9a
23759 Bad Segeberg
04551 / 95 53 00

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