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Donnerstag, 30. Oktober 2014, 22:51 Uhr

Der besondere Kündigungsschutz für Schwerbehinderte

Hilfe oder stumpfes Schwert?

Olaf Harning | Ein schwerbehinderter Angestellter, der am Arbeitsplatz masturbiert- und damit eine Kollegin belästigt haben soll. Ein Arbeitgeber, der diesen Verdacht schnell als verbriefte Wahrheit wertet und dem Beschuldigten kündigt. Ein Fall für seichte Gemüter ist er nicht gerade, der Konflikt, den Ilyas D. und sein Arbeitgeber da ausfechten.

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(Foto: Infoarchiv)

Eher einer, der Fragen aufwirft – zum Beispiel die, warum dem 42jährigen überhaupt so einfach gekündigt werden konnte? Grundsätzlich nämlich genießen Schwerbehinderte in Deutschland einen besonderen Kündigungsschutz, der in §§ 85 bis 92 SGB IX geregelt ist. Der greift nach sechsmonatiger Betriebszugehörigkeit und zwar für alle Arbeitnehmer, die einen Grad der Behinderung von mindestens 50 aufweisen oder dieser Gruppe nach § 68 SGB IX gleichgestellt sind. Kernpunkt dieses Kündigungsschutzes ist die verpflichtende Anhörung des zuständigen Integrationsamtes, einer Behörde, die die Sicherung der Integration von Behinderten im Arbeitsleben zur Aufgabe hat. Wird einem Schwerbehinderten gekündigt, ohne dass das Integrationsamt angehört wurde, ist die Kündigung unwirksam – unter Umständen selbst dann, wenn der Arbeitgeber gar nichts von der Behinderung wusste.

Kehrseite dieses Schutzes sind die relativ übersichtlichen Befugnisse der Integrationsämter: Sie sollen zwar den jeweiligen Sachverhalt einer Kündigung klären, dafür im Regelfall Stellungnahmen des Betroffenen, des Arbeitgebers, des Betriebsrats oder auch der möglicherweise vorhandenen Schwerbehindertenvertretung einholen. Wirkungsvoll ablehnen aber kann die Behörde eine Kündigung in der Regel nur, wenn deren Begründung in engem Zusammenhang mit der jeweils anerkannten Behinderung steht. Im Fall des Ilyas D. wurde das vom zuständigen Integrationsamt kurzerhand verneint, der Kündigung zugestimmt. Und das ist keinesfalls die Ausnahme: Genau 25808 Kündigungen von Schwerbehinderten hatten die Integrationsämter nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 2012 zu bewerten, davon knapp ein Viertel verhaltensbedingte Kündigungen. In rund 80 Prozent dieser Fälle stimmte die Behörde der Entlassung am Ende zu, womöglich nicht immer alternativlos: So verzeichnet die DGB Rechtschutz GmbH seit 2010 eine leichte aber stetige Zunahme arbeitnehmerseitiger Widerspruchsverfahren gegen Entscheidungen der Integrationsämter. Ein scharfes Schwert, so scheint es, ist der besondere Kündigungsschutz für Schwerbehinderte also nicht gerade. Zumal auch der Arbeitgeber ein „Nein“ des Amtes vor Gericht überwinden kann.

Neben dem Integrationsamt können Arbeitnehmer in größeren Unternehmen auch auf die Unterstützung der dortigen Schwerbehindertenvertretung hoffen. Die wird gemäß §§ 94 bis 97 SGB IX in Betrieben gewählt, in denen mehr als fünf Schwerbehinderte beschäftigt sind. Allerdings hat auch diese Vertretung bei Kündigungen nur wenig Einfluss: So kann sie zwar an allen Versammlungen des Betriebs- oder Personalrats teilnehmen, hat dort aber lediglich beratende Funktion, kein Stimmrecht.

Veröffentlicht in Behindertenpolitik/Assistenzbedürftige mit den Schlagworten Behinderte, Kündigung, SGB IX