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Montag, 30. Oktober 2000, 1:00 Uhr

"Warum nicht Kattendorf, Kisdorf oder Winsen ?"

Auf der Suche nach dem Sozialen im Amt Ulzburg

Olaf Harning | Sozialämter sind oft seltsame Orte, erstaunlicherweise meist nicht sehr soziale. In Henstedt-Ulzburg allerdings haben Bürgermeister Volker Dornquast und Amtsleiter Raymond Böge sehr spezielle Vorstellungen von den Aufgaben dieser Einrichtung entwickelt. Die ständige Erniedrigung der Betroffenen ist hier nicht Ausnahme, sondern Programm.

"Beraten wird bei uns nicht", pflegt Raymond Böge, Leiter des Henstedt-Ulzburger Sozialamtes auf Nachfrage zu antworten, wenn keine unerwünschten ZeugInnen in der Nähe sind. "Die Leute wissen ja, was ihnen zusteht", teilte der Amtsleiter einmal der verdutzten Öffentlichkeit mit. Nur wer "in Sack und Asche" erscheine, erhalte ein paar Hinweise auf mögliche Hilfestellungen seines Amtes. Während von offizieller Seite stets beteuert wird, das Sozialamt der Gemeinde leiste "engagierte Arbeit, die manchmal sogar Arbeitsvermittlung einschließt und hat Anerkennung und Vertrauen durch die Politiker und die Bevölkerung verdient" (CDU-Henstedt-Ulzburg), sieht die Wirklichkeit für die Bedürftigen anders aus. Schon seit Jahren wird immer wieder Kritik an den Praktiken des Böge unterstehenden Amtes laut und auch die örtliche SPD veröffentlichte zuletzt im März 1998 wieder eine Liste mit 14 Punkten, in der dem Amt zum Teil schwere Verfehlungen vorgeworfen wurden. So müßten AntragstellerInnen Wartezeiten von manchmal drei Monaten bei der Bearbeitung ihrer Anträge in Kauf nehmen, um sich anschließend fragen zu lassen, wie sie denn die drei Monate ohne Zahlungen zurechtkommen konnten, wenn sie bedürftig seien. Hilfesuchenden werde die Sozialhilfe wegen "zu hoher Mieten" verweigert, damit eine mögliche Obdachlosigkeit der Betroffenen bewußt riskiert. Oft erscheinen MitarbeiterInnen des Sozialamtes zu Hausbesuchen, um angegebene Sachverhalte zu überprüfen. Ein noch fast zu glimpfliches Urteil über eine Behörde, in der Hilfesuchende auch schon mal als "Kanackin" tituliert werden und der "anonyme Hinweise" reichen, um die Sozialhilfe für eine siebenfache Mutter einzustellen.

Ein Papier mit dem Titel "Sozialberatung in Henstedt-Ulzburg", im Juli dieses Jahres von mehreren betroffenen Frauen verfaßt, bestätigt die Vorwürfe ebenso, wie die ehemalige AWO-Sozialberaterin Rita Goebel, die Mitte 1999 angesichts der Zustände im Ort ihren Job aufgab. "Das Sozialamt kontrolliert jeden Fall umgehend. Privatheit gibt es für Antragsteller nicht mehr. Viele schreckt die Verfahrensweise derartig ab, daß sie lieber unter dem Existenzminimum leben, als den Antrag auf Sozialhilfe weiterzuverfolgen." Goebel: "Die Betroffenen werden nach mehreren Wochen oder Monaten - so lange zieht sich die Bearbeitung teilweise hin - gefragt, wie sie so lange ohne Hilfe des Sozialamtes auskommen konnten. Darauf geben die meisten unklare Auskünfte. Sie müssen aber nun beweisen, warum sie ohne Hilfe existieren konnten". Die 20jährige Serena F. (Name geändert) war unbefangen, als sie nach einem längeren Auslandsaufenthalt am 8. Februar 1999 im Ulzburger Sozialamt einen Antrag auf Sozialhilfe stellte, doch das sollte sich schnell ändern. Nachdem ihr Antrag zunächst freundlich entgegengenommen wurde, bemühte sie sich wenige Tage später um eine Wohnung in der Rostocker Straße, wo unter anderem zahlreiche Sozialwohnungen gebaut wurden. Doch während ihr das Wohnungsamt die Auskunft gab, es wären noch etliche Wohnungen frei, teilte ihr die Sachbearbeiterin des Sozialamtes nur mit, alles sei besetzt, sie müsse sich mit einem Platz auf der Warteliste begnügen. Doch damit nicht genug: als sie zu dem Gespräch bei Frau H.-B. eintrat, hörte sie die Behördenmitarbeiterin laut und vernehmlich das Wort "Kanackin" murmeln. Grund genug für die damals 19jährige, einige Tage darauf Anzeige bei der Henstedt-Ulzburger Polizei zu erstatten. Wenig später war ihr Sozialhilfeersuchen per Gericht durchgefochten, H.-B. hatte noch im Februar in der Ablehnung desselben so interessant ausgeführt, Serena F. möge doch bitte nicht der Allgemeinheit zur Last fallen.

Von derlei Schikanen weiß auch die 37jährige Angelika Guerra ein Lied zu singen, die seit Mai 1998 für die örtlichen Bündnisgrünen im Sozialausschuss sitzt. Die zweifache Mutter machte erstmals im Dezember 1992 Erfahrungen mit dem Amt. Schnell wurde ihr klar, daß Frauen in Henstedt-Ulzburg besser keine Sozialhilfe beantragen sollten. Erste Frage der Sachbearbeiterin: "Wer schafft sich denn heute noch zwei Kinder an?" Nach einem halben Jahr ständigen Telefonierens und oft stundenlangem Warten auf dem Amt wurden die Mietzahlungen endlich regelmäßig von der Behörde überwiesen - immerhin. Schlimmer traf es da schon Maria Terésa F., als ihr Ende August 1993 die Sozialhilfe aufgrund einer lediglich unterstellten "Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft" mit ihrem Mitbewohner entzogen und sie dadurch mitsamt ihrer knapp einjährigen Tochter obdachlos wurde. Vom Ordnungsamt der Gemeinde in der Notunterkunft Lindenstraße untergebracht, mußte sie sich dort mit den übrigen Bewohnern - ausschließlich Männer - Dusche und WC teilen, die F. zugeteilte Pritsche war kurz zuvor von Rita Goebel gespendet worden - für in der ungastlichen Gemeinde gestrandete Flüchtlinge.

Generell scheint das Ulzburger Sozialamt alleinerziehenden Frauen einen "Ernährer" zu unterstellen oder ihn zu suchen, zumindest wird schon bei dem geringsten Verdacht auf einen solchen die Sozialhilfe nicht mehr ausgezahlt - meist ohne jegliche Nachfrage oder Rücksprache mit den Betroffenen. So auch im Fall von Meike L., Mutter von sieben Kindern und nach der Trennung von ihrem Mann 1998 zeitweise auf Sozialhilfe angewiesen: gerade einmal zwei Wochen nach dem entsprechenden Antrag im Juli 1998 tritt Sachbearbeiter R. mit den Worten "Sie wissen wohl, was ich hier will" in die Wohnung ein, begutachtet mögliche Hinweise auf einen weiteren Bewohner und fragt die verdutzte Frau schließlich vorwurfsvoll, warum eines ihrer Kinder schlafe - dann geht er. Rund zwei Monate später wieder Besuch, diesmal treten zwei Mitarbeiter des Sozialamtes wortlos ein und erläutern Meike L. nach der Durchsuchung ihrer Wohnung, es habe einen anonymen Hinweis gegeben. Sie werde von einem Mitbewohner ausgehalten, die Sozialhilfe sei bereits gestrichen, sie könne ja später dazu Stellung nehmen. Tags darauf überreichte man ihr auf die Frage, wie sie denn jetzt ihre Kinder ernähren solle wortlos einen Zettel mit der Anschrift der "Quickborner Tafel", einer privaten Hilfsorganisation für Mittellose, vornehmlich Obdachlose.

Solche Hilfsorganisationen scheinen es den MitarbeiterInnen des Henstedt-Ulzburger Sozialamts angetan zu haben: Auch Jens H. wurde schon mehr als einmal geraten, sich bei Bedarf "an die Essensausgabe" zu wenden. Als seine Sachbearbeiterin, Frau F., ihn nach einer solchen Erniedrigung noch fragte: "Wissen Sie eigentlich, wie lange Sie dem Sozialamt schon auf der Tasche liegen?", war es H. genug. Er formulierte eine Dienstaufsichtsbeschwerde über die Beamtin und adressierte sie an Bürgermeister Dornquast. Doch nicht der dafür zuständige Bürgermeister, sondern die beschuldigte Sachbearbeiterin selbst beantwortete schließlich den offiziellen Protest des 34jährigen. Statt einer Entschuldigung wieder Drohungen: H. solle aufpassen, was er da behaupte. Jens H. bezieht seit Anfang 1997 Sozialhilfe, nachdem er seit einem schweren Unfall u.a. unter epileptischen Anfällen leidet und arbeitsunfähig ist. Zwar wurde ihm das seitdem immer und immer wieder ärztlich und auch amtsärztlich bescheinigt, doch im Henstedt-Ulzburger Amt sieht man den Inhalt ärztlicher Atteste eher locker. Nachdem die Sozialhilfe zunächst relativ problemlos ausgezahlt wurde, begannen ab Weihnachten 1999 die ortsüblichen Schikanen: Ständige Termine auf dem Amt, immer wieder die Aufforderung, Dokumente nachzureichen, oft ohne Angabe, welche Dokumente denn überhaupt gemeint waren. Alleine im laufenden Jahr mußte H. drei Anträge mit Hilfe des Verwaltungsgerichts Schleswig, einen per Widerspruch beim Kreissozialamt durchsetzen.

Auch mit der Prüfung der Angaben von Betroffenen nimmt es Raymond Böges Amt sehr ernst. Immer wieder werden MitarbeiterInnen des Sozialamtes dabei gesehen, wie sie - etwa versteckt hinter Autos, mal auch ganz offen - die Wohnungen von SozialhilfeempfängerInnen beobachten. Später werden über die so gewonnenen "Informationen" Akten angelegt, so auch über die "Bewegungsdaten" von Meike L.: sie konnte während eines Termins auf dem Amt eine Seite ihrer Akte einsehen, auf der detailliert festgehalten war, wann sie das Haus verließ oder wer bei ihr klingelte. Andere Betroffene bestätigten solche "Aufzeichnungen" sowie regelmäßige, unangemeldete Besuche, die eher Hausdurchsuchungen ähneln. Ein Beispiel aus dem Papier "Sozialberatung in Henstedt-Ulzburg": "Einem Antrag auf einen Wohnzimmertisch, Preis 30,- DM, folgen zwei Hausbesuche zur Klärung des Sachverhaltes, dann schriftliche Ablehnung, weil der vorhandene Tisch noch zu reparieren sei ...". Doch für die Ablehnung gestellter Anträge brauchen die emsigen MitarbeiterInnen des Ulzburger Sozialamtes nicht immer anonyme Hinweise oder Observierungsergebnisse, auch ohne solch eigenwillige Methoden ist man auf dem Amt nicht zimperlich. F.´s Antrag auf neue Schuhe für ihre zu diesem Zeitpunkt eineinhalbjährige Tochter beantwortete die zuständige Behördenmitarbeiterin einst mit dem Hinweis, sie hätte erst vor kurzem Geld für Schuhe bewilligt, außerdem sei es "ja warm draußen", das Kleinkind könne schließlich "barfuß gehen". Auch ihrem Ersuchen nach einem Kühlschrank wurde zunächst einfallsreich begegnet: "warum stellen Sie die Sachen nicht auf den Balkon?", als Kinderbett hielt man eine zusammenklappbare, knüppelharte Pritsche mit integrierter Matratze für tauglich.

Zahllose Anträge setzten auch F., L. und Guerra erst nach eingelegtem Widerspruch beim Kreissozialamt Segeberg oder einem sogenannten "Antrag auf einstweilige Anordnung" beim Verwaltungsgericht Schleswig durch. Dort kennt man dem Vernehmen nach bereits die Problematik. So sei es nicht unüblich, daß in Bad Segeberg an einigen Tagen drei Stunden lang getagt wird, um "Ulzburger Fälle" zu entscheiden. Und auch die Anwältin von Jens H. ist verwirrt: "So einen Umgang habe ich noch nicht erlebt !" Kein Wunder, schreit Sachbearbeiterin H.-B. ihren Klienten auch schon mal vor versammeltem KollegInnenkreis an: "Ihre Rechtsanwältin kann hier so oft anrufen, wie sie will, das interessiert mich einen feuchten Dreck !" Wenn Betroffene mit einem Antrag hingegen nicht durchkommen, darf es sie nicht wundern, wenn Bürgermeister Dornquast auch einmal persönlich im Sozialamt erscheint, um AntragstellerInnen mitzuteilen, daß ihr Ersuchen "leider abgelehnt werden müsse" und anschließend den Ablehnungsbescheid unterschreibt.

Durchaus beachtenswert auch die Art Amtsleiter Raymond Böges, mit "uneinsichtigen KlientInnen" umzugehen. Als Teréza F. einmal mit ihren Kindern und einer Freundin zu einem Gespräch in sein Büro kam, empfing er die Frauen mit den Füßen auf dem Schreibtisch sowie den Worten: "Was wollt Ihr?". Daß "unfreundliches Verhalten" und extremer Druck auf die Betroffenen im Sozialamt der Großgemeinde zum guten Ton gehören, stellte im übrigen erst vor kurzem auch die Flüchtlingsarbeit des Diakonischen Werkes fest. In einem offiziellen Vermerk an das schleswig-holsteinische Innenministerium vom 4. Juli dieses Jahres berichtet das Büro der Flüchtlingshilfe in Norderstedt über einen Klienten: "Die Nichtbeantragung von öffentlicher Hilfe zwischen April und Juni d.Js. begründet Herr ... damit, daß er die Qualität der Kundenkommunikation des für ihn zuständigen Sachbearbeiters im zuständigen Sozialamt nicht hätte ertragen können. Soweit Leistungskürzungen durch das Sozialamt durchgeführt worden sind, geschah dies u.E. jeweils unter Mißachtung des Wortlautes des § 1a Abs. 2 AsylbLG sowie der geltenden schleswig-holsteinischen Weisungslage." Der betreffende Flüchtling war zuvor "am Ende seiner Kräfte" und "völlig verwahrlost" in der Beratungsstelle der Diakonie erschienen.

Die Grünen-Politikerin Angelika Guerra hat die perfide Taktik der Gemeinde mehr als verstanden und schmeißt dieser Tage das Handtuch. Entnervt von den ständigen Schikanen wird sie Anfang Januar Henstedt-Ulzburg den Rücken kehren. Letztlich ausschlaggebend für diese Entscheidung: Die erneute Einstellung der Sozialhilfezahlungen, Begründung diesmal: Nach einer Überprüfung ihrer Kontoauszüge sei zu ersehen, daß Guerra Nebeneinkünfte gehabt haben müsse. Unter anderem wurde ihr angelastet, sie hätte zu hohe Telefonrechnungen bezahlen und zu große Teile ihrer Schulden beim Amt begleichen können, als es ihr hätte möglich sein dürfen. So absurd dieserlei Vorgehensweisen anmuten, so wirkungsvoll sind sie. So wurde vor kurzem einer alleinerziehenden Mutter von einem benachbarten Sozialamt nachdrücklich davon abgeraten, nach Henstedt-Ulzburg zu ziehen. Angelika Guerra kennt solche Ratschläge auch aus anderer Richtung: Sie war vor einigen Jahren vom wohlgenährten Bürgermeister persönlich süffisant lächelnd gefragt worden: "warum nicht Kattendorf, Kisdorf oder Winsen?" Henstedt-Ulzburgs rigorose Politik gegenüber Bedürftigen jedweder Coleur hat also Struktur und kann beachtliche "Erfolge" vorweisen. Reihenweise verlassen SozialhilfeempfängerInnen die Großgemeinde um der latenten Erniedrigung durch das Amt zu entkommen und senken so nachhaltig die Ausgaben des Ortes für soziale Hilfen. So zog auch Terésa F. schon 1998 nach Bad Bramstedt, wo sie wenig später – wieder im Vollbesitz ihrer Selbstachtung – eine Anstellung beim dortigen Sozialamt antreten konnte. Kein Wunder also, daß die Gemeinde Henstedt-Ulzburg im gesamten Kreis Segeberg die geringsten Mittel für Sozialhilfe aufwendet und auch Schleswig-Holstein-weit auf den "untersten" Plätzen rangiert. Das Sozialamt im benachbarten Kaltenkirchen beispielsweise zahlte 1998 pro Kopf der Bevölkerung fast acht mal (!) so viel Geld an Bedürftige aus, in Norderstedt wurde im Verhältnis die fünffache Summe berappt.

Für Dornquast kein Grund zur Veranlassung, er sieht die Ursache für das auffällig geringe Sozialhilfebudget des Ortes vielmehr "in der Struktur der Gemeinde" - die sich freilich von der Struktur Kaltenkirchens nicht wirklich wesentlich unterscheidet. Außerdem: "Wir haben ein Sozialamt, das strenger kontrolliert, als andere. Wenn das zu einem schlechten Ruf führt, kann ich damit leben." Kann er und gefiel sich Anfang 1999 gut darin, der großen Nachbarin Hamburg öffentlichkeitswirksam "mangelnde Kontrolle von SozialhilfeempfängerInnen" vorzuwerfen. Diese mangelnde Kontrolle in anderen Orten muß dann wohl auch die Ursache dafür sein, daß das Rauhe Haus - eine bundesweit arbeitende Organisation zur Unterstützung behinderter Menschen - sich im nächsten Jahr aus Henstedt-Ulzburg zurückzieht und in das Umland ausweicht. Ralf Schlichting, Koordinator ambulanter und flexibler Hilfen im Norderstedter Heidelweg: "Das Sozialamt Ulzburg macht es uns fast unmöglich, den Auftrag des Kreissozialamtes zu erfüllen und die von uns betreuten Menschen zu integrieren. Wir mußten beispielsweise in mehreren Fällen schockiert feststellen, daß sich Klienten des Rauhen Hauses gezwungen sahen, sich heimlich aus Mülltonnen zu ernähren, weil das Sozialamt schlicht die Zahlungen verweigert hatte."