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Donnerstag, 3. Februar 2011, 17:16 Uhr

Jungheinrich AG: Eine Belegschaft wehrt sich

Aktiv ohne IG Metall

Titel der Zeitschrift "METALL", Dezember 2010

Titel der Zeitschrift "METALL", das Mitgliederblatt der IG Metall, Ausgabe Dezember 2010

Von Karl-Helmut Lechner | Wenn in den Konzernen die Gewinne wieder sprudeln und die produzierten Stückzahlen die Höhe von 2007 und 2008 erreichen, fragen sich nicht wenige Belegschaften betroffen: Und wo bleiben wir? Und obwohl liberale und konservative Politiker einvernehmlich mit den Funktionären von Arbeitgeberverbänden für höhere Löhne plädieren, entsteht bei manchen Kollegen das ungute Gefühl, irgendwie doch der Betrogene zu sein. Von der IG Metall kommt dazu keine Antwort. Die Kolleginnen und Kollegen des Norderstedter Gabelstapler- und Logistikkonzerns Jungheinrich haben erkannt: Erfolg ist nur zu haben, wenn man die Sache selbst in die Hand nimmt.

Lohnabbau trotz Aufschwung

Unter der Überschrift „Kämpfen in Zeiten der Krise“ hatte das Infoarchiv im Oktober 2010 über die Lage des Konzerns und die der Belegschaft berichtet.

Unternehmenslogo

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Das Marktvolumen für Gabelstapler war weltweit von 872.000 Einheiten in 2008 auf nur mehr 547.000 eingebrochen. Hiervon waren alle Regionen der Welt betroffen, vor allem aber die Kernmärkte in Europa mit nahezu einer Halbierung des Markts. Für den Jungheinrich-Konzern bedeutete das zum Teil mehr als 40% Rückgang der Auslastung in den Werken. Ende 2009 konnte das Management in einem Interessenausgleich und Sozialplan Personalabbau und Lohnkürzungen durchsetzen, der ab 2010 seine Wirkung entfalten sollte. Aber schon auf der Hauptversammlung der Jungheinrich Aktiengesellschaft im Juni 2010 verkündete der Vorstandsvorsitzende in seiner Sprache als Betriebswirtschaftler, dass der „operative Turnaround bereits nach acht Monaten geschafft“ wurde und man somit jetzt schon wieder beim Profit-Machen sei. „Auf die massiven Umsatz- und Auftragseinbußen reagierte die Unternehmensführung mit der schnellen und konsequenten Umsetzung umfassender Anpassungs- und Restrukturierungsmaßnahmen. Dank der richtigen strategischen Weichenstellung konnte Jungheinrich aber gestärkt aus der Krise herauskommen“, war in den Berichten an die Aktionäre zu lesen.

 

Was bedeutete das für die Belegschaft? Ab Frühjahr 2010 wurden wieder Leihleute eingestellt und Überstundenanträge sogar für Samstage gestellt. Die Kolleginnen und Kollegen, die ab Januar 2010 das Unternehmen in Richtung einer Auffanggesellschaft verlassen hatten, um in den vorgezogenen Ruhestand zu gehen, fehlten. Ein erstes Zugeständnis des Managements war es, dass der Betriebsrat des Werkes in Norderstedt das Gleitzeitmodell für die Beschäftigten in Wechselschicht, das eine hohe Qualität für die Kolleginnen und Kollegen darstellt, wieder in Kraft setzen konnte. Aber im Kernbereich der abgeschlossenen Vereinbarungen, beim Personalabbau und bei den Lohnkürzungen, bewegte sich die Firma ganz und gar nicht. Nicht einmal bei der Frage des eventuellen Vorziehens der Tariferhöhung in 2011. Auch Teile der Betriebsräte und Vertrauensleute der IG Metall hatten Skrupel, die geschlossenen Vereinbarungen anzupacken und ihre Änderung zu fordern. Denn zugleich war Bestandteil des Interessenausgleichs und Sozialplans eine Beschäftigungszusage bis 2013 für die Belegschaft, die bleiben konnte. Wer traute schon der sich wieder erholenden Konjunktur? Vielleicht war sie nur ein Strohfeuer? Ab Sommer 2010 war dann „überall“ vom heißen Herbst die Rede - auch die IG Metall organisierte Aktivitäten. Aber immer außerhalb der Betriebe. In Hamburg protestierten am 30. Oktober 2000 Metallerlinnen und Metaller gegen die Sparpolitik der Bundesregierung: „Unsere Forderung an die Politik: Weg mit dem Sparpaket - Kurswechsel jetzt!“ Auf 23 Barkassen schipperten sie mit dieser Parole durch den Hafen. Für die Probleme der Kolleginnen und Kollegen von Jungheinrich war das keine Lösung.

Aktiv ohne IG Metall

In der Belegschaft des Jungheinrich-Werkes in Norderstedt war das Murren über diese vertrackte Situation nicht mehr zu überhören. Vertrauensleute und Betriebsrat mussten sich dazu verhalten und aktiv werden. Um es höflich zu sagen: Nicht gerade ermutigt von der IG Metall, machten sie sich an die Arbeit. Als erstes führten sie eine weitere Betriebsversammlung durch. Diese „weitere“ Betriebsversammlung kann der Betriebsrat nicht einfach einberufen, sie musste zunächst beim Arbeitgeber juristisch durchgesetzt werden. Das Betriebsverfassungsgesetz sieht in der Regel „nur“ eine Versammlung im Vierteljahr vor. Das gelang gegen die Bedenkenträger in den eigenen Reihen. Hier konnte, während de facto die Arbeit - schmerzlich für den Arbeitgeber - ruhte, die Lage dargestellt und erörtert werden. Hauptsächlicher Kritikpunkt der Kolleginnen und Kollegen: Die im Interessenausgleich und Sozialplan vereinbarten Schritte zur „Abschmelzung“ von betrieblichen Lohnbestandteilen, vor allem bei Akkordarbeitern.

Die Versammlung bewirkte zunächst nur, dass der Arbeitgeber sich überhaupt zu Verhandlungen bereit erklärte. Da die Gesetzeslage in Deutschland es nicht erlaubt, aus betrieblichen Gründen die Arbeit niederzulegen, ließ sich die Interessenvertretung der Belegschaft noch etwas einfallen, um den Druck zu erhöhen. Die IG Metall-Vertrauensleute forderten bei Schichtbeginn die Kolleginnen und Kollegen auf, sich nach der Frühstückspause kollektiv beim Betriebsrat über den Verhandlungsstand informieren zu lassen. Dies ist dann rechtlich kein „wilder Streik“; meldet sich die Kollegin, der Kollege dafür korrekt am Arbeitsplatz ab, muss der Arbeitgeber die anfallende Zeit sogar bezahlen. Immerhin ist das gesicherte Rechtssprechung. Zwei solcher „Kantinenaktionen“ stärkten dem Betriebsrat in seinen Verhandlungen den Rücken.

Nach neun Verhandlungsrunden gab es dann folgendes Ergebnis: Die bisherigen Vereinbarungen, die die Beschäftigungsgarantie, aber auch die „Abschmelzung“ von Lohnbestandteilen enthalten, bleiben voll erhalten. Als

Ausgleich wurde eine neue Zulage vereinbart, die entsprechend den vereinbarten Schritten des Lohnabbaus den Lohnverlust wett macht. Beides, die „Abschmelzung“, wie deren Kompensation durch die neue Zulage, wird in der Gehaltsabrechnung dokumentiert. Dafür zahlt die Belegschaft aber einen hohen Preis. Es wurde eine Quote für Leihkräfte in Höhe von 25% der gewerblichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vereinbart. Um den Einsatz der Leihleute teurer zu machen, wurde für sie eine Sonderregelung vereinbart. Sie bekommen zuzüglich der Zahlungen durch die Leihfirma von Jungheinrich 13% Zuschlag auf das Tarifentgelt bei Zeitentgelt, 17% Zuschlag auf das Tarifentgelt bei Leistungsentgelt und die bei Jungheinrich übliche Schichtzulage. Die Betriebsräte waren sich abschließend nicht sicher, ob sie mit diesem Ergebnis vor die Belegschaft treten könnten. So einfach unterschreiben per Betriebsratsbeschluss wollten sie das Papier nicht. Sie mussten sich eine Legitimation zum Abschluss einer solchen Regelung beschaffen. Auch dazu hatten sie eine gute Idee. Auf der regulären Betriebsversammlung im Dezember 2010 stellten sie das Verhandlungsergebnis ausgiebig dar. Und die Kolleginnen und Kollegen, die zur Versammlung gekommen waren, konnten dann beim Verlassen der Versammlung schriftlich ihr Votum abgeben, ja oder nein. Mit 70 Prozent Zustimmung wurde das Verhandlungsergebnis angenommen. Die Vertrauensleute berichten, dass seitdem der Streit in dieser Sache innerhalb der Belegschaft befriedet ist. Dass sie in dieser schwierigen Lage durch selbständiges Agieren einen - wenn auch geringen - Erfolg erzielt haben, hat sie gestärkt. Dass die IG Metall als Organisation in diesem betrieblichen Konflikt nicht unterstützend präsent war, ist um so mehr zu bedauern.

Veröffentlicht in Arbeit & Kapital mit den Schlagworten IG Metall, Jungheinrich, Norderstedt