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Samstag, 11. April 2015, 8:23 Uhr

Dem NS-Terror auf der Spur

Evangelikale erinnern an die Räumung des KZ Fuhlsbüttel im April 1945

Bibeln im Bücherregal, rote und blaue Einbände

Vor allem Religiös sind die Motive der "Marsch des Lebens"-Bewegung. Die Evangelikalen stehen für eine strenge Auslegung der Bibel und sehen in den Juden das von Gott auserwählte Volk (Foto: Infoarchiv).

Olaf Harning | „8.30 Uhr: Start auf Suhrenkamp nach Nordosten Richtung Binsenweg; Siebenundachtzig Meter, eine Minute zehn Sekunden“. Mangelndes Organisationsvermögen kann man ihnen nicht vorwerfen, den „Israelfreunden Norddeutschland“. Mit einem „Marsch des Lebens“ wollen die evangelikalen Christen Mitte April an die Räumung des Hamburger KZ Fuhlsbüttel erinnern - doch nicht jedem gefällt das.

"Marsch des Lebens"

Schon am 14. April startet die Aktion der "Israelfreunde Norddeutschland" mit einer Auftaktveranstaltung in der Fuhlsbütteler Lukas-Kirche - Redner dort u.a. der ehemalige Bezirksamtsleiter Wolfgang Kopitzsch, ein Grußwort spricht Landesrabbiner Shlomo Bistritzky.

 

Einen Tag später beginnt dann der "Marsch des Lebens": Um 8.30 Uhr wollen sich rund 150 TeilnehmerInnen im Suhrenkamp 100 in Bewegung setzen und mit strammen 4,5 km/h über Langenhorner Chaussee, Ulzburger Straße und Hamburger Straße bis Kaltenkirchen ziehen, wo die erste Tagesstrecke endet. Vier Tage später erreicht die Gruppe dann Kiel.

 

Auf der Strecke wollen die Initiatoren Details des Evakuierungsmarsches nachvollziehen, haben unter anderem einen Landwirt kontaktiert, auf dessen Hof 1945 zwei Menschen erschossen wurden.

 

Neben Tochter und Enkelin der einstigen KZ-Gefangenen Hilde Sherman, die aus Israel anreisen, nehmen auch Nachkommen des kommunistischen Ehepaares Tennigkeit und der Enkel von Lagerkommandant Willi Tessmann teil.

April 1945. Die heran nahenden britischen Truppen im Blick, beschließt der Hamburger SS-Gruppenführer Georg-Henning Graf von Bassewitz-Behr, das KZ Neuengamme und seine Außenlager zu räumen. Ab dem 12. April werden so auch die rund 800 Häftlinge des Konzentrationslagers Fuhlsbüttel – im Volksmund: „KoLaFu“ in Gruppen von ein- bis zweihundert Menschen Richtung Kiel getrieben. Dort sollen sie das berüchtigte Arbeitserziehungslager Nordmarkim Stadtteil Hassee erreichen. 600 Menschen starben hier an Folter und Hunger, alleine 300 in den letzten zwei Wochen vor Kriegsende.

Die Menschen waren in furchtbarem Zustande“, gab später Minna Lieberam über eine Marschkolonne aus Fuhlsbüttel zu Protokoll. Sie selbst hatte das „Glück“, auf einem Wagen mit Kranken und Gefolterten gefahren zu werden. „Die meisten waren barfuß, und ihre Füße waren mit eiternden Wunden bedeckt“, erinnerte sie sich 1946 an den Moment, als ihr Wagen eine Gruppe der Häftlinge überholte. Rund 80 Kilometer legten die Männer in diesem Zustand zurück, übernachteten in Scheunen oder im Freien. Wer zu fliehen versuchte, oder Widerstand leistete, wurde erschossen. Acht Männer sollten Kiel nie erreichen.

An dieses Marthyrium wollen die „Israelfreunde“ nun genau 70 Jahre später erinnern, indem sie den einstigen Leidensweg der Häftlinge vom 15. April an detailgetreu nachlaufen. „Marsch des Lebens“ nennen sie diese Aktion, die ausdrücklich keinen demonstrativen oder politischen Charakter haben soll, sondern als Gebets- und Gedenkveranstaltung gedacht ist. Die Idee dazu geht auf das evangelikale Missionswerk „Tübinger Offensive Stadtmission“ (TOS) und seinen Gründer Jobst Bittner zurück: Erstmals 2007 war der mit seiner Frau Charlotte und rund 300 Anhängern von der Schwäbischen Alb nach Dachau gelaufen, um auf historischen Routen an den Todesmarsch von KZ-Häftlingen zu erinnern. Seitdem erfreut sich die Initiative regen Zulaufs und kann inzwischen auf über 100 Aktionen zurückblicken - weitere 20 Märsche kommen alleine im April 2015 hinzu.

Altes Torhaus in Fuhlsbüttel, Backsteinbau mit zwei Türmen und Eingangstor

Der Eingang zum ehemaligen Konzentrationslager Fuhlsbüttel: Das Torhaus beherbergt heute eine Gedenkstätte. Hier startete der "Evakuierungsmarsch" 1945 (Foto: flamenc; wikipedia).

Doch die bloße Erinnerung an Nazi-Opfer ist nicht der einzige Beweggrund der Initiatoren: Den bibeltreuen Christen, neben den Aktivisten der TOS meist Angehörige örtlicher Freikirchen, geht es auch um „Versöhnung, Heilung und Wiederherstellung“ der Beziehung „zwischen den Nachkommen der Täter- und Opfergeneration“, wie Initiator Jobst Bittner regelmäßig betont. „Mit denen zusammen, die gelitten haben“, wolle man „den Todesmarsch der Holocaust-Opfer“ nachgehen und damit eine „Decke des Schweigens“ lüften, die der Tübinger Theologe noch immer „über unseren Städten“ wähnt.

Dabei ist gerade die Geschichte des einstigen KZ Fuhlsbüttel umfassend aufgearbeitet, auch der "Evakuierungsmarsch" selbst und die NS-Geschichte der durchquerten Städte und Gemeinden war in den 80er und 90er Jahren Gegenstand historischer Betrachtungen. Eine „Decke des Schweigens“ also ist allenfalls für die Jahrzehnte nach Kriegsende anzunehmen. Außerdem waren in den insgesamt drei Gefängnissen und Lagern der Haftanstalt Fuhlsbüttel überwiegend politische Gefangene, Gruppen wie die „Zeugen Jehovas", Homosexuelle und andere stigmatisierte Minderheiten inhaftiert. Den Marsch Richtung Kiel als „Todesmarsch der Holocaust-Opfer“ zu bezeichnen, ist also zumindest recht einseitig interpretiert.

Auch deshalb hat sich die Nordkirche bereits im September vom „Marsch des Lebens“ distanziert: Ob denn auch allen anderen Opfern des Nationalsozialismus gedacht werde, fragte Pastorin Hanna Lehmning da in einer mehrseitigen Stellungahme des Referats für christlich-jüdischen Dialog – um dann selber zu antworten: „Nein“, denn den „Veröffentlichungen der Initiatoren zufolge geht es ausschließlich um jüdische Opfer.“ Auch das Hauptziel der religiösen Aktion sieht Lehming kritisch, die Versöhnung von Tätern und Opfern durch ihre Nachkommen: „Nach biblischer Auffassung ist jeder Mensch für seine eigenen Verfehlungen und Untaten verantwortlich“. Eine stellvertretende Vergebung, wie beim Marsch des Lebens geplant, könne es daher ebenso wenig geben, wie die Buße für etwas, was man nicht getan hat. „Aus meiner Sicht“, so Lehming, „ist das Verständnis von Buße, Schuld und Vergebung der Marsch des Lebens-Initiatoren nicht biblisch und nicht christlich.

Evangelikale Israelfreunde

Organisationen, wie die "Israelfreunde Norddeutschland" oder die "Tübinger Offensive Stadtmission" gehören zur wachsenden, evangelikalen Bewegung in Deutschland.

 

"Evangelikalismus" ist eine theologische Richtung innerhalb des Protestantismus. Evangelikale vertreten eine vergleichsweise radikale, bibeltreue Auslegung des christlichen Glaubens. Sie organisieren sich in den Landeskirchen, haben aber auch zahlreiche eigene Gemeinden gegründet - sogenannte Freikirchen.

 

Aufgrund ihrer religiösen Strenge und eines oft engen inneren Zusammenhalts werden evangelikale Gemeinden gelegentlich mit Sekten verglichen. Trotz theologischer Unterschiede eint sie der Glaube an den leibhaftigen Teufel, der die Menschen zu Sünden verführt und sie Prüfungen unterzieht. 

 

Kritik ziehen Evangelikale regelmäßig auf sich, weil sie sich mehr oder weniger offen homophob zeigen und Homosexualität entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse als "heilbar" ansehen. Insbesondere das Erinnern an homosexuelle Opfer der Nazis gewinnt so eine leicht zynische Note.

 

Israel und dem jüdischen Volk fühlen sich die Fundamental-Christen verbunden, weil sie das Judentum als auserwähltes Volk Gottes ansehen. Dass dies durchaus auch strategische, soll heißen: missionarische Hintergründe hat, wie auch die jüdischen Gemeinden in der Region betonen, wird bereits länger diskutiert.

Während die israelische Knesset die Bewegung Ende 2011 zusammen mit 30 weiteren evangelikalen Gruppen für die Unterstützung von Holocaust-Überlebenden ehrte, grenzen sich jüdische Gemeinden in Deutschland regelmäßig von den Märschen ab. So zum Beispiel die israelitischen Kultusgemeinden in Bayern: Zusammen mit Vertretern der evangelischen Landeskirche distanzierte sich deren Verband kürzlich klar von einem für Ende April geplanten Marsch zur KZ-Gedenkstätte in Dachau. Man habe bei den Initiatoren „theologische Sonderwelten“ und eine Vermischung „dämonologischer Deutungen des Nationalsozialismus“ ausgemacht, hieß es da im Süden der Republik - mit „psychologischen, genetischen und biblizistischen“ Elementen. Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) musste sich zwischenzeitlich sogar für die Genehmigung des Marsches rechtfertigen, betonte schließlich, es handele sich ja nicht um verfassungsfeindliche Gruppierungen.

Für den Marsch nach Kiel erhielten die Veranstalter ähnliche Absagen: „Bei den Veranstaltern handelt es sich um fundamentalistische Christen“, die - zusammen mit ähnlichen Initiativen - "nahezu ausschließlich" damit beschäftigt seien, "Juden für ihre Gruppe zu missionieren", kritisiert etwa Wolfgang Seibert, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Pinneberg. Er bitte um Verständnis, „dass wir uns unter diesen Umständen nicht an der Veranstaltung beteiligen.“ Und auch Walter Blender von der benachbarten Gemeinde in Bad Segeberg sieht hinter dem Marsch "missionierende Absichten", vor denen die Gemeinde ihre Mitglieder schütze. Der Marsch sei weder mit den Landeskirchen, noch mit den jüdischen Gemeinden abgesprochen.

In der Hansestadt selbst ist von derlei Kritik wenig zu spüren. Nach Angaben von Michael Dierks, Sprecher der Israelfreunde Norddeutschland, konnte neben Bezirksamtsleiter Harald Rösler als Schirmherr auch sein Vorgänger, Hamburgs Polizeipräsident a.D. Wolfgang Kopitzsch (beide SPD) als Redner für die Auftaktveranstaltung gewonnen werden. Und sogar der Landesrabbiner Shlomo Bistritzky hat sich für ein Grußwort angekündigt. Die Kritik am Marsch kann Dierks nicht nachvollziehen, er weist auch den Vorwurf zurück, nicht alle Opfergruppen im Blick zu haben: Während der Vorbereitung seien sowohl Angehörige politischer Häftlinge, als auch jüdische Nachkommen und Sinti-Familien angesprochen worden. Die vielen ausländischen Opfer sollen durch Verlesen von 100 Namen bedacht werden. Für die Auftaktveranstaltung in der Fuhlsbütteler St. Lukas-Kirche und den Weg nach Kiel konnten so mehrere Nachkommen von Marschteilnehmern gewonnen werden – und außerdem Klaus Tessmann, Enkel des letzten Lagerkomandanten im KoLaFu.

Vielleicht liegt es ja genau daran, dass ausgerechnet diejenigen, die sich in der Region bislang in Sachen Erinnerung, Gedenken und Mahnen engagieren, nicht dabei sind, wenn sich die gut 150 Teilnehmer am Mittwochmorgen in Bewegung setzen. Nicht dass sie dem Enkel Willi Tessmanns irgendetwas nachtragen, es ist wohl eher die Symbolik der demonstrativen Versöhnung und auch die religiöse Aufladung der Aktion, die mit der Aufarbeitung von NS-Verbrechen und auch der Gedenkstättenarbeit nur schwer in Einklang zu bringen ist. Mitglieder der Willi-Bredel-Gesellschaft, die 1988 aus einer Bürgerinitiative zum Erhalt des historischen KZ-Tors am „KoLaFu“ hervorgegangen ist, Aktive des Trägervereins der KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen oder auch die vielen Einzelpersonen, die hier Geschichte wach halten, wird man auf dem „Marsch des Lebens“ also vergeblich suchen.