+ + + ARCHIVIERTER INHALT + + +

Diese Seite kommt aus unserem Archiv und enthält möglicherweise Informationen, die nicht mehr aktuell sind. Bitte beachten Sie das Veröffentlichungsdatum dieser Seite.

Montag, 16. September 2002, 2:00 Uhr

"Bundesverfassungsgericht unerheblich"

Antirassist erneut für Flugblatt verurteilt

ram | Fast zwei Jahre sind inzwischen vergangen, seit am Morgen des 6. Dezember 2000 fünf Polizeibeamte die Wohnung des Baugewerkschafters durchsuchten. Man stellte den Rechner des Antirassisten sicher und fand darauf u.a. den vom Angeklagten nie bestrittenen Entwurf eines Flugblattes, das vor allem die mangelhafte ärztliche Versorgung von Abschiebegefangenen scharf kritisierte. Der Flugblattentwurf jedoch sowie die Tatsache, dass der 31jährige sich Monate nach der Erstellung an einer entsprechenden Kundgebung vor der Praxis von Anstaltsarzt Dr. Hans H. Köhler beteiligte, reichten Staatsanwaltschaft und Amtsrichter Leendertz schon am 19. November 2001 aus, um ihn der "Schmähkritik" zu bezichtigen und hilfsweise wegen "Beihilfe zur Verleumdung in drei Fällen" zu verurteilen. Zuvor waren sie deutlich damit gescheitert, Olaf. H. auch wegen "Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz" und "gegen das Pressegesetz" zu verurteilen, bzw. ihn der Verleumdung des Arztes zu bezichtigen. Offensichtlich hatten Dritte die endgültige Bearbeitung und Veröffentlichung des Flugblattes übernommen.

Hauptsächliche Angriffspunkte von Staatsanwaltschaft und Gericht waren damals wie auch jüngst vor dem Kieler Landgericht einige wenige Begrifflichkeiten sowie das Erscheinungsbild des Textes. Vor allem am Begriff der "Sonderbehandlung" von Abschiebehäftlingen stören sich die Strafverfolger. Darin lassen sie sich auch nicht davon beirren, dass das Asyslbewerberleistungsgesetz (AlysBewG) eben jene Sonderbehandlung festschreibt und namhafte Persönlichkeiten den Begriff in noch weit brisanteren Passagen benutzen, wie etwa Heiko von Kaufmann - Bundessprecher von Pro Asyl. Der Angeklagte würde Dr. Köhler mit der Nutzung dieses Begriffes eindeutig in die Nähe nationalsozialistischer Massenmorde rücken, befanden die Gerichte. Auch die provokative Aussage, Flüchtlinge und MigrantInnen würden von "gekauften" ÄrztInnen behandelt (Anführungszeichen im Original), erregte die juristischen Gemüter, habe Olaf H. doch damit unterstellt, u.a. Dr. Köhler ließe sich für bestimmte Gutachten bestechen.

Zu guter letzt übertrugen Amtsrichter Leendertz wie Richter Kluike kurzerhand einen Satz, der auf zwei bei der Hamburger Ausländerbehörde angestellte ÄrztInnen bezogen war, auch auf Dr. Köhler und behaupteten, letzterer sei "mit gemeint" und werde damit geschmäht.

Doch im Rahmen der Verurteilung begingen Staatsanwaltschaft und Amtsrichter zunächst Rechtsfehler, das Norderstedter Amtsgericht stand zwischenzeitlich gar in Verdacht, das Verfahren anschließend verschleppt zu haben. Nachdem der Anwalt H.´s am 26. November und damit fristgerecht Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt hatte, wurde im Gericht möglicherweise ein um zwei Tage nach hinten verschobener Eingangsstempel auf das Dokument gesetzt, die Rechtsmittel anschließend als "nicht fristgerecht" abgelehnt. Wegen dieses abenteuerlichen Umganges mit der Materie erstattete ein zweiter Anwalt wenig später Anzeige wegen des Verdachtes, die Akten seien manipuliert worden - wenig überraschend wurden die folgenden Ermittlungen jedoch eingestellt. Erst am 3. Juni 2002 beschloß die XI. kleine Strafkammer am Landgericht Kiel schließlich, "dass die Rechtsmittelschrift (...) innerhalb der Rechtsmittelfrist beim Amtsgericht eingegangen ist."

Diese Kammer führte jetzt - am 16. September - und damit weitere drei Monate später auch die Berufungsverhandlung in Kiel und Richter Kluike machte sofort deutlich, welches Urteil er zu fällen gedachte: "Ich weiß gar nicht, was Sie hier wollen", richtete er sich direkt an den Angeklagten, "Sie werden hier kein anderes Urteil bekommen" - vor der Beweisaufnahme, versteht sich. So muß sich dann auch H.´s Verteidiger gefühlt haben, als werfe er Perlen vor die Säue, als er quasi nach der Vorwegnahme des späteren Urteils mehrere Beweisanträge einbrachte, die sich einerseits mit der umstrittenen Arbeit des Mediziners hinter den Zäunen der Norderstedter Abschiebehaft beschäftigten und andererseits Tatsachenbehauptungen aus dem Flugblattentwurf zu belegen versuchten. Unerheblich, befand Kluike. Schließlich sei es klar erkennbar das hauptsächliche Ziel des Textes gewesen, Dr. Köhler mit einer Schmähkritik zu überziehen. Daher sei es nicht relevant, ob die darin erhobenen Vorwürfe der Wahrheit entsprechen. Genau diese Bewertung hatte zuvor auch der Kieler Staatsanwalt Ronsfeld gefordert: "Der Mann sollte fertig gemacht werden", empörte er sich und stellte klar, dass es seines Erachtens vor allem die volle Namensnennung des Arztes gewesen sei, die nach Verurteilung schreit. Hätte H. darauf verzichtet, wäre sein Text juristisch kaum angreifbar gewesen.

Energisch zitierte Ronsfeld gleich mehrere Beispiele weitaus deftigerer Kritik an staatlichen Organen, die jedoch allesamt ohne konkrete Namensnennung arbeiteten. Grundsätzlich sei also die freie Meinungsäußerung auch mit überzogener und provokativer Kritik zulässig, so lange Roß und Reiter nicht genannt werden. Der Hinweis von Verteidiger Ritter, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes dieser Sichtweise widerspreche, wischte Kluike routiniert vom Tisch: "Alles, was das Verfassungsgericht dazu gesagt hat, interessiert uns in diesem Fall gar nicht, diese Stunden hätten wir uns sparen können."

Olaf H. warf der Richter an der XI. kleinen Strafkammer abschließend vor, er sei ein "Überzeugungstäter, das sieht auch diese Kammer hier. Bei Ihrer Überzeugung sind wir zu der Einschätzung gekommen, dass 50 Tagessätze sich durchaus am unteren Rand der Skala bewegen, auch wenn wir nur eine Straftat annehmen und nicht wie bisher drei." Zumindest in Sachen "Überzeugungstäter" schienen sich Richter und Angeklagter plötzlich sehr ähnlich zu sein, auch wenn natürlich nur einer von beiden erneut zu 2.200 EURO Geldstrafe verurteilt worden ist. Für einen Flugblattentwurf - so das Gericht - der nur von "ideologisch völlig Verprellten" anders verstanden werden könne.

Veröffentlicht in Repression/Antirepression mit den Schlagworten Norderstedt, Polizei